Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Erster Abschnitt.
rer Zeit- und Volksgenossen ganz herausgehoben hätten:
so werden wir in Bezug auf die im N. T. citirten Weis-
sagungen nach Umständen ohne Weiteres zugeben können,
dass sie hier nicht selten ganz anders ausgelegt und ange-
wendet werden, als sie ursprünglich gemeint waren.

Wir haben hier in der That eine vollständige Tafel
aller 4 über diesen Punkt möglichen Ansichten, worunter
2 Extreme und 2 Vermittlungsweisen, eine falsche und ei-
ne, hoffentlich, richtige.

1. Orthodoxe Ansicht (Hengstenberg u. A.): Der-
gleichen A. T.liche Stellen hatten schon ursprünglich nur
die prophetische Beziehung auf Christus; denn die N. T.-
lichen Schriftsteller deuten sie so, und diese müssen Recht
haben, wenn auch der Menschenverstand dabei zu Grun-
de geht.

2. Rationalistische Ansicht (von Paulus u. A.):
Auch die N. T.lichen Schriftsteller geben den A. T.lichen
Orakeln jene streng-messianische Deutung nicht; denn diese
Beziehung ist den Orakeln, verständig angesehen, ursprüng-
lich fremd; mit dem Verstande aber müssen die N. T.li-
chen Schriftsteller zusammenstimmen, was auch die Alt-
gläubigen dagegen sagen mögen.

3. Mystisch vermittelnde Ansicht (von Ols-
hausen
u. A.): In den A. T.lichen Stellen liegt ursprüng-
lich sowohl der von den N. T.lichen Schriftstellern ange-
gebene tiefere, als auch der durch verständige Ansicht der-
selben uns aufgenöthigte nähere Sinn: so kann sich ge-
sunder Menschenverstand und Altgläubigkeit vertragen.

4. Entscheidung der Kritik: Die A. T.lichen
Weissagungen hatten ursprünglich meistens nur jene nähere
Beziehung auf Zeitverhältnisse: wurden aber von den N.
T.lichen Männern als wirkliche Prophezeihungen auf Je-
sus als den Messias angesehen, weil der Verstand in je-
nen Männern durch die Denkart ihres Volks modificirt war,

Erster Abschnitt.
rer Zeit- und Volksgenossen ganz herausgehoben hätten:
so werden wir in Bezug auf die im N. T. citirten Weis-
sagungen nach Umständen ohne Weiteres zugeben können,
daſs sie hier nicht selten ganz anders ausgelegt und ange-
wendet werden, als sie ursprünglich gemeint waren.

Wir haben hier in der That eine vollständige Tafel
aller 4 über diesen Punkt möglichen Ansichten, worunter
2 Extreme und 2 Vermittlungsweisen, eine falsche und ei-
ne, hoffentlich, richtige.

1. Orthodoxe Ansicht (Hengstenberg u. A.): Der-
gleichen A. T.liche Stellen hatten schon ursprünglich nur
die prophetische Beziehung auf Christus; denn die N. T.-
lichen Schriftsteller deuten sie so, und diese müssen Recht
haben, wenn auch der Menschenverstand dabei zu Grun-
de geht.

2. Rationalistische Ansicht (von Paulus u. A.):
Auch die N. T.lichen Schriftsteller geben den A. T.lichen
Orakeln jene streng-messianische Deutung nicht; denn diese
Beziehung ist den Orakeln, verständig angesehen, ursprüng-
lich fremd; mit dem Verstande aber müssen die N. T.li-
chen Schriftsteller zusammenstimmen, was auch die Alt-
gläubigen dagegen sagen mögen.

3. Mystisch vermittelnde Ansicht (von Ols-
hausen
u. A.): In den A. T.lichen Stellen liegt ursprüng-
lich sowohl der von den N. T.lichen Schriftstellern ange-
gebene tiefere, als auch der durch verständige Ansicht der-
selben uns aufgenöthigte nähere Sinn: so kann sich ge-
sunder Menschenverstand und Altgläubigkeit vertragen.

4. Entscheidung der Kritik: Die A. T.lichen
Weissagungen hatten ursprünglich meistens nur jene nähere
Beziehung auf Zeitverhältnisse: wurden aber von den N.
T.lichen Männern als wirkliche Prophezeihungen auf Je-
sus als den Messias angesehen, weil der Verstand in je-
nen Männern durch die Denkart ihres Volks modificirt war,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0174" n="150"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
rer Zeit- und Volksgenossen ganz herausgehoben hätten:<lb/>
so werden wir in Bezug auf die im N. T. citirten Weis-<lb/>
sagungen nach Umständen ohne Weiteres zugeben können,<lb/>
da&#x017F;s sie hier nicht selten ganz anders ausgelegt und ange-<lb/>
wendet werden, als sie ursprünglich gemeint waren.</p><lb/>
            <p>Wir haben hier in der That eine vollständige Tafel<lb/>
aller 4 über diesen Punkt möglichen Ansichten, worunter<lb/>
2 Extreme und 2 Vermittlungsweisen, eine falsche und ei-<lb/>
ne, hoffentlich, richtige.</p><lb/>
            <p>1. <hi rendition="#g">Orthodoxe Ansicht</hi> (<hi rendition="#k">Hengstenberg</hi> u. A.): Der-<lb/>
gleichen A. T.liche Stellen hatten schon ursprünglich nur<lb/>
die prophetische Beziehung auf Christus; denn die N. T.-<lb/>
lichen Schriftsteller deuten sie so, und diese müssen Recht<lb/>
haben, wenn auch der Menschenverstand dabei zu Grun-<lb/>
de geht.</p><lb/>
            <p>2. <hi rendition="#g">Rationalistische Ansicht</hi> (von <hi rendition="#k">Paulus</hi> u. A.):<lb/>
Auch die N. T.lichen Schriftsteller geben den A. T.lichen<lb/>
Orakeln jene <choice><sic>streng-messianisehe</sic><corr>streng-messianische</corr></choice> Deutung nicht; denn diese<lb/>
Beziehung ist den Orakeln, verständig angesehen, ursprüng-<lb/>
lich fremd; mit dem Verstande aber müssen die N. T.li-<lb/>
chen Schriftsteller zusammenstimmen, was auch die Alt-<lb/>
gläubigen dagegen sagen mögen.</p><lb/>
            <p>3. <hi rendition="#g">Mystisch vermittelnde Ansicht</hi> (von <hi rendition="#k">Ols-<lb/>
hausen</hi> u. A.): In den A. T.lichen Stellen liegt ursprüng-<lb/>
lich sowohl der von den N. T.lichen Schriftstellern ange-<lb/>
gebene tiefere, als auch der durch verständige Ansicht der-<lb/>
selben uns aufgenöthigte nähere Sinn: so kann sich ge-<lb/>
sunder Menschenverstand und Altgläubigkeit vertragen.</p><lb/>
            <p>4. <hi rendition="#g">Entscheidung der Kritik</hi>: Die A. T.lichen<lb/>
Weissagungen hatten ursprünglich meistens nur jene nähere<lb/>
Beziehung auf Zeitverhältnisse: wurden aber von den N.<lb/>
T.lichen Männern als wirkliche Prophezeihungen auf Je-<lb/>
sus als den Messias angesehen, weil der Verstand in je-<lb/>
nen Männern durch die Denkart ihres Volks modificirt war,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0174] Erster Abschnitt. rer Zeit- und Volksgenossen ganz herausgehoben hätten: so werden wir in Bezug auf die im N. T. citirten Weis- sagungen nach Umständen ohne Weiteres zugeben können, daſs sie hier nicht selten ganz anders ausgelegt und ange- wendet werden, als sie ursprünglich gemeint waren. Wir haben hier in der That eine vollständige Tafel aller 4 über diesen Punkt möglichen Ansichten, worunter 2 Extreme und 2 Vermittlungsweisen, eine falsche und ei- ne, hoffentlich, richtige. 1. Orthodoxe Ansicht (Hengstenberg u. A.): Der- gleichen A. T.liche Stellen hatten schon ursprünglich nur die prophetische Beziehung auf Christus; denn die N. T.- lichen Schriftsteller deuten sie so, und diese müssen Recht haben, wenn auch der Menschenverstand dabei zu Grun- de geht. 2. Rationalistische Ansicht (von Paulus u. A.): Auch die N. T.lichen Schriftsteller geben den A. T.lichen Orakeln jene streng-messianische Deutung nicht; denn diese Beziehung ist den Orakeln, verständig angesehen, ursprüng- lich fremd; mit dem Verstande aber müssen die N. T.li- chen Schriftsteller zusammenstimmen, was auch die Alt- gläubigen dagegen sagen mögen. 3. Mystisch vermittelnde Ansicht (von Ols- hausen u. A.): In den A. T.lichen Stellen liegt ursprüng- lich sowohl der von den N. T.lichen Schriftstellern ange- gebene tiefere, als auch der durch verständige Ansicht der- selben uns aufgenöthigte nähere Sinn: so kann sich ge- sunder Menschenverstand und Altgläubigkeit vertragen. 4. Entscheidung der Kritik: Die A. T.lichen Weissagungen hatten ursprünglich meistens nur jene nähere Beziehung auf Zeitverhältnisse: wurden aber von den N. T.lichen Männern als wirkliche Prophezeihungen auf Je- sus als den Messias angesehen, weil der Verstand in je- nen Männern durch die Denkart ihres Volks modificirt war,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/174
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/174>, abgerufen am 22.11.2024.