Wie diese apokryphischen Erzählungen lange Zeit in der Kirche für historisch gehalten, und gleich den Berich- ten der kanonischen Evangelien vom supranaturalistischen Standpunkt aus auf wunderhafte Weise erklärt wurden: so haben sie in neuerer Zeit auch das Loos der natürli- chen Erklärung mit den N. T.lichen Erzählungen theilen müssen. War nämlich in der älteren Kirche der Wunder- glaube so überschwenglich stark, dass er auch noch über das N. T. hinaus für apokryphische Erzählungen zureich- te und über deren offenbar unhistorischen Charakter ver- blendete: so war in einzelnen Herolden der neueren Auf- klärung der rationalistische Pragmatismus so überkräftig, dass sie, wie z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte des grossen Propheten von Nazaret, denselben sogar den apokryphischen Mirakeln gewachsen glaubten, wesswegen der genannte Verf. getrost auch die Erzählungen von der Abkunft und Jugend der Maria, natürlich gedeutet, in den Kreis seiner Darstellung aufgenommen hat 11). Wenn man in unsern Tagen mit der Einsicht in den offenbar mythi- schen Charakter solcher apokryphischen Erzählungen so- wohl auf jene Kirchenväter, als auf diese natürlichen Er- klärer herabblickt: so fragt es sich, ob nicht doch diese beiden Eines vor jenen Herunterblickenden voraus haben, nämlich die Consequenz, mit welcher sie so verwandte Erzählungen, wie die von den Lebensanfängen der Maria auf der einen, und des Täufers und Jesu auf der andern Seite, auch auf gleiche Weise fassten, entweder beide wun- derhaft oder beide natürlich, nicht aber wie jetzt gewöhn- lich ist, die eine zwar mythisch, die andre aber geschichtlich.
§. 20. Abweichungen der beiden kanonischen Evangelien in Bezug auf das Formelle der Verkündigung.
Gehen wir nach diesen allgemeinen Umrissen näher auf
11) 1ter Band, S. 119 ff.
Drittes Kapitel. §. 20.
Wie diese apokryphischen Erzählungen lange Zeit in der Kirche für historisch gehalten, und gleich den Berich- ten der kanonischen Evangelien vom supranaturalistischen Standpunkt aus auf wunderhafte Weise erklärt wurden: so haben sie in neuerer Zeit auch das Loos der natürli- chen Erklärung mit den N. T.lichen Erzählungen theilen müssen. War nämlich in der älteren Kirche der Wunder- glaube so überschwenglich stark, daſs er auch noch über das N. T. hinaus für apokryphische Erzählungen zureich- te und über deren offenbar unhistorischen Charakter ver- blendete: so war in einzelnen Herolden der neueren Auf- klärung der rationalistische Pragmatismus so überkräftig, daſs sie, wie z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret, denselben sogar den apokryphischen Mirakeln gewachsen glaubten, weſswegen der genannte Verf. getrost auch die Erzählungen von der Abkunft und Jugend der Maria, natürlich gedeutet, in den Kreis seiner Darstellung aufgenommen hat 11). Wenn man in unsern Tagen mit der Einsicht in den offenbar mythi- schen Charakter solcher apokryphischen Erzählungen so- wohl auf jene Kirchenväter, als auf diese natürlichen Er- klärer herabblickt: so fragt es sich, ob nicht doch diese beiden Eines vor jenen Herunterblickenden voraus haben, nämlich die Consequenz, mit welcher sie so verwandte Erzählungen, wie die von den Lebensanfängen der Maria auf der einen, und des Täufers und Jesu auf der andern Seite, auch auf gleiche Weise fassten, entweder beide wun- derhaft oder beide natürlich, nicht aber wie jetzt gewöhn- lich ist, die eine zwar mythisch, die andre aber geschichtlich.
§. 20. Abweichungen der beiden kanonischen Evangelien in Bezug auf das Formelle der Verkündigung.
Gehen wir nach diesen allgemeinen Umrissen näher auf
11) 1ter Band, S. 119 ff.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0157"n="133"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Drittes Kapitel</hi>. §. 20.</fw><lb/><p>Wie diese apokryphischen Erzählungen lange Zeit in<lb/>
der Kirche für historisch gehalten, und gleich den Berich-<lb/>
ten der kanonischen Evangelien vom supranaturalistischen<lb/>
Standpunkt aus auf wunderhafte Weise erklärt wurden:<lb/>
so haben sie in neuerer Zeit auch das Loos der natürli-<lb/>
chen Erklärung mit den N. T.lichen Erzählungen theilen<lb/>
müssen. War nämlich in der älteren Kirche der Wunder-<lb/>
glaube so überschwenglich stark, daſs er auch noch über<lb/>
das N. T. hinaus für apokryphische Erzählungen zureich-<lb/>
te und über deren offenbar unhistorischen Charakter ver-<lb/>
blendete: so war in einzelnen Herolden der neueren Auf-<lb/>
klärung der rationalistische Pragmatismus so überkräftig,<lb/>
daſs sie, wie z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte<lb/>
des groſsen Propheten von Nazaret, denselben sogar den<lb/>
apokryphischen Mirakeln gewachsen glaubten, weſswegen<lb/>
der genannte Verf. getrost auch die Erzählungen von der<lb/>
Abkunft und Jugend der Maria, natürlich gedeutet, in den<lb/>
Kreis seiner Darstellung aufgenommen hat <noteplace="foot"n="11)">1ter Band, S. 119 ff.</note>. Wenn man<lb/>
in unsern Tagen mit der Einsicht in den offenbar mythi-<lb/>
schen Charakter solcher apokryphischen Erzählungen so-<lb/>
wohl auf jene Kirchenväter, als auf diese natürlichen Er-<lb/>
klärer herabblickt: so fragt es sich, ob nicht doch diese<lb/>
beiden Eines vor jenen Herunterblickenden voraus haben,<lb/>
nämlich die Consequenz, mit welcher sie so verwandte<lb/>
Erzählungen, wie die von den Lebensanfängen der Maria<lb/>
auf der einen, und des Täufers und Jesu auf der andern<lb/>
Seite, auch auf gleiche Weise fassten, entweder beide wun-<lb/>
derhaft oder beide natürlich, nicht aber wie jetzt gewöhn-<lb/>
lich ist, die eine zwar mythisch, die andre aber geschichtlich.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 20.<lb/>
Abweichungen der beiden kanonischen <choice><sic>Fvangelien</sic><corr>Evangelien</corr></choice> in Bezug<lb/>
auf das Formelle der Verkündigung.</head><lb/><p>Gehen wir nach diesen allgemeinen Umrissen näher auf<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[133/0157]
Drittes Kapitel. §. 20.
Wie diese apokryphischen Erzählungen lange Zeit in
der Kirche für historisch gehalten, und gleich den Berich-
ten der kanonischen Evangelien vom supranaturalistischen
Standpunkt aus auf wunderhafte Weise erklärt wurden:
so haben sie in neuerer Zeit auch das Loos der natürli-
chen Erklärung mit den N. T.lichen Erzählungen theilen
müssen. War nämlich in der älteren Kirche der Wunder-
glaube so überschwenglich stark, daſs er auch noch über
das N. T. hinaus für apokryphische Erzählungen zureich-
te und über deren offenbar unhistorischen Charakter ver-
blendete: so war in einzelnen Herolden der neueren Auf-
klärung der rationalistische Pragmatismus so überkräftig,
daſs sie, wie z. B. der Verfasser der natürlichen Geschichte
des groſsen Propheten von Nazaret, denselben sogar den
apokryphischen Mirakeln gewachsen glaubten, weſswegen
der genannte Verf. getrost auch die Erzählungen von der
Abkunft und Jugend der Maria, natürlich gedeutet, in den
Kreis seiner Darstellung aufgenommen hat 11). Wenn man
in unsern Tagen mit der Einsicht in den offenbar mythi-
schen Charakter solcher apokryphischen Erzählungen so-
wohl auf jene Kirchenväter, als auf diese natürlichen Er-
klärer herabblickt: so fragt es sich, ob nicht doch diese
beiden Eines vor jenen Herunterblickenden voraus haben,
nämlich die Consequenz, mit welcher sie so verwandte
Erzählungen, wie die von den Lebensanfängen der Maria
auf der einen, und des Täufers und Jesu auf der andern
Seite, auch auf gleiche Weise fassten, entweder beide wun-
derhaft oder beide natürlich, nicht aber wie jetzt gewöhn-
lich ist, die eine zwar mythisch, die andre aber geschichtlich.
§. 20.
Abweichungen der beiden kanonischen Evangelien in Bezug
auf das Formelle der Verkündigung.
Gehen wir nach diesen allgemeinen Umrissen näher auf
11) 1ter Band, S. 119 ff.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/157>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.