lungsweg eines Menschen wie der Ablauf eines Uhrwerks vorherbestimmen lasse, und er würde ebendesswegen über Ungenauigkeit der Beobachtung und Unzuverlässigkeit ei- nes Berichtes sich beschweren, welcher so unmögliche Dinge als geschehene erzähle. Warum thut er diess nicht auch in Bezug auf unsern N. T.lichen Bericht? warum findet er hier annehmlich, was er dort verwirft? Herr- schen denn in der biblischen Geschichte andere Gesetze als in der übrigen? Diess muss der Rationalist voraussetzen, wenn er das sonst Unglaubliche in der evangelischen Ge- schichte glaublich findet; damit aber kehrt er zum supra- naturalistischen Standpunkt zurück, denn eben die Annah- me, dass die sonst gewöhnlichen Naturgesetze für jene Ge- schichte nicht gelten, ist das Eigenthümliche des Supra- naturalismus.
Vor dieser Selbstvernichtung sich zu retten, bleibt der dem Wunder ausweichenden Erklärungsart nichts Anderes übrig, als die buchstäbliche Richtigkeit der Erzählung zu bezweifeln. Dass dieses die einfachste Auskunft wäre, be- merkt auch Paulus, wenn er selbst vermuthet, man werde sein Bemühen mit natürlicher Erklärung eines Berichtes überflüssig finden, welcher nichts Andres als eine von den lobpreisenden Jugendgeschichten sei, wie sie von jedem grossen Manne nach seinem Tode oder selbst noch zu sei- nen Lebzeiten gedichtet werden. Dennoch glaubt Paulus nach unparteiischer Erwägung diese Analogie hier nicht anwenden zu dürfen. Sein vornehmster Grund ist die all- zukurze Zwischenzeit zwischen der Geburt des Täufers und der Abfassung des Lukas-Evangeliums 12), was wir nach dem in der Einleitung Bemerkten geradezu umkeh- ren und den genannten Ausleger fragen können, wie er begreiflich machen wolle, dass von einem so gefeierten Manne wie Johannes, in einer so aufgeregten Zeit, seine
12) a. a. O. S. 72 f.
Erstes Kapitel. §. 14.
lungsweg eines Menschen wie der Ablauf eines Uhrwerks vorherbestimmen lasse, und er würde ebendeſswegen über Ungenauigkeit der Beobachtung und Unzuverläſsigkeit ei- nes Berichtes sich beschweren, welcher so unmögliche Dinge als geschehene erzähle. Warum thut er dieſs nicht auch in Bezug auf unsern N. T.lichen Bericht? warum findet er hier annehmlich, was er dort verwirft? Herr- schen denn in der biblischen Geschichte andere Gesetze als in der übrigen? Dieſs muſs der Rationalist voraussetzen, wenn er das sonst Unglaubliche in der evangelischen Ge- schichte glaublich findet; damit aber kehrt er zum supra- naturalistischen Standpunkt zurück, denn eben die Annah- me, daſs die sonst gewöhnlichen Naturgesetze für jene Ge- schichte nicht gelten, ist das Eigenthümliche des Supra- naturalismus.
Vor dieser Selbstvernichtung sich zu retten, bleibt der dem Wunder ausweichenden Erklärungsart nichts Anderes übrig, als die buchstäbliche Richtigkeit der Erzählung zu bezweifeln. Daſs dieses die einfachste Auskunft wäre, be- merkt auch Paulus, wenn er selbst vermuthet, man werde sein Bemühen mit natürlicher Erklärung eines Berichtes überflüssig finden, welcher nichts Andres als eine von den lobpreisenden Jugendgeschichten sei, wie sie von jedem groſsen Manne nach seinem Tode oder selbst noch zu sei- nen Lebzeiten gedichtet werden. Dennoch glaubt Paulus nach unparteiischer Erwägung diese Analogie hier nicht anwenden zu dürfen. Sein vornehmster Grund ist die all- zukurze Zwischenzeit zwischen der Geburt des Täufers und der Abfassung des Lukas-Evangeliums 12), was wir nach dem in der Einleitung Bemerkten geradezu umkeh- ren und den genannten Ausleger fragen können, wie er begreiflich machen wolle, daſs von einem so gefeierten Manne wie Johannes, in einer so aufgeregten Zeit, seine
12) a. a. O. S. 72 f.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0119"n="95"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erstes Kapitel</hi>. §. 14.</fw><lb/>
lungsweg eines Menschen wie der Ablauf eines Uhrwerks<lb/>
vorherbestimmen lasse, und er würde ebendeſswegen über<lb/>
Ungenauigkeit der Beobachtung und Unzuverläſsigkeit ei-<lb/>
nes Berichtes sich beschweren, welcher so unmögliche<lb/>
Dinge als geschehene erzähle. Warum thut er dieſs nicht<lb/>
auch in Bezug auf unsern N. T.lichen Bericht? warum<lb/>
findet er hier annehmlich, was er dort verwirft? Herr-<lb/>
schen denn in der biblischen Geschichte andere Gesetze als<lb/>
in der übrigen? Dieſs muſs der Rationalist voraussetzen,<lb/>
wenn er das sonst Unglaubliche in der evangelischen Ge-<lb/>
schichte glaublich findet; damit aber kehrt er zum supra-<lb/>
naturalistischen Standpunkt zurück, denn eben die Annah-<lb/>
me, daſs die sonst gewöhnlichen Naturgesetze für jene Ge-<lb/>
schichte nicht gelten, ist das Eigenthümliche des Supra-<lb/>
naturalismus.</p><lb/><p>Vor dieser Selbstvernichtung sich zu retten, bleibt der<lb/>
dem Wunder ausweichenden Erklärungsart nichts Anderes<lb/>
übrig, als die buchstäbliche Richtigkeit der Erzählung zu<lb/>
bezweifeln. Daſs dieses die einfachste Auskunft wäre, be-<lb/>
merkt auch <hirendition="#k">Paulus</hi>, wenn er selbst vermuthet, man werde<lb/>
sein Bemühen mit natürlicher Erklärung eines Berichtes<lb/>
überflüssig finden, welcher nichts Andres als eine von den<lb/>
lobpreisenden Jugendgeschichten sei, wie sie von jedem<lb/>
groſsen Manne nach seinem Tode oder selbst noch zu sei-<lb/>
nen Lebzeiten gedichtet werden. Dennoch glaubt <hirendition="#k">Paulus</hi><lb/>
nach unparteiischer Erwägung diese Analogie hier nicht<lb/>
anwenden zu dürfen. Sein vornehmster Grund ist die all-<lb/>
zukurze Zwischenzeit zwischen der Geburt des Täufers<lb/>
und der Abfassung des Lukas-Evangeliums <noteplace="foot"n="12)">a. a. O. S. 72 f.</note>, was wir<lb/>
nach dem in der Einleitung Bemerkten geradezu umkeh-<lb/>
ren und den genannten Ausleger fragen können, wie er<lb/>
begreiflich machen wolle, daſs von einem so gefeierten<lb/>
Manne wie Johannes, in einer so aufgeregten Zeit, seine<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[95/0119]
Erstes Kapitel. §. 14.
lungsweg eines Menschen wie der Ablauf eines Uhrwerks
vorherbestimmen lasse, und er würde ebendeſswegen über
Ungenauigkeit der Beobachtung und Unzuverläſsigkeit ei-
nes Berichtes sich beschweren, welcher so unmögliche
Dinge als geschehene erzähle. Warum thut er dieſs nicht
auch in Bezug auf unsern N. T.lichen Bericht? warum
findet er hier annehmlich, was er dort verwirft? Herr-
schen denn in der biblischen Geschichte andere Gesetze als
in der übrigen? Dieſs muſs der Rationalist voraussetzen,
wenn er das sonst Unglaubliche in der evangelischen Ge-
schichte glaublich findet; damit aber kehrt er zum supra-
naturalistischen Standpunkt zurück, denn eben die Annah-
me, daſs die sonst gewöhnlichen Naturgesetze für jene Ge-
schichte nicht gelten, ist das Eigenthümliche des Supra-
naturalismus.
Vor dieser Selbstvernichtung sich zu retten, bleibt der
dem Wunder ausweichenden Erklärungsart nichts Anderes
übrig, als die buchstäbliche Richtigkeit der Erzählung zu
bezweifeln. Daſs dieses die einfachste Auskunft wäre, be-
merkt auch Paulus, wenn er selbst vermuthet, man werde
sein Bemühen mit natürlicher Erklärung eines Berichtes
überflüssig finden, welcher nichts Andres als eine von den
lobpreisenden Jugendgeschichten sei, wie sie von jedem
groſsen Manne nach seinem Tode oder selbst noch zu sei-
nen Lebzeiten gedichtet werden. Dennoch glaubt Paulus
nach unparteiischer Erwägung diese Analogie hier nicht
anwenden zu dürfen. Sein vornehmster Grund ist die all-
zukurze Zwischenzeit zwischen der Geburt des Täufers
und der Abfassung des Lukas-Evangeliums 12), was wir
nach dem in der Einleitung Bemerkten geradezu umkeh-
ren und den genannten Ausleger fragen können, wie er
begreiflich machen wolle, daſs von einem so gefeierten
Manne wie Johannes, in einer so aufgeregten Zeit, seine
12) a. a. O. S. 72 f.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/119>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.