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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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nahme zwingt. Der Hof und die Residenz
bilden ein großes lebendiges Gemälde, in wel-
chem sich die kleinen Züge und Schattirun-
gen unaufhörlich verändern; eine Begebenheit
drängt die andere; der Held des Tages ist es
morgen nicht mehr; kaum von unserm Blick
gefaßt, verschwindet er unter der unbemerkten
Menge, und wir selbst fühlen uns erstaunt
durch den Strom der Zeit und den Wechsel
der Dinge in neue Sphären und unbekannte
Verhältnisse fortgewälzt. Eine Abgeschieden-
heit von wenigen Tagen isolirt den Weltmann,
der au courant zu leben gewohnt ist; er sieht
sich fremd in einer Welt, in der er sich zu
Hause glaubte.

Wo die großen Gegenstände der Konversa-
tion nicht zureichen, da nimmt man seine Zu-
flucht zur Litteratur. Bey der Mischung von
Ständen die hier in allen Gesellschaften statt
findet, ist es natürlich, daß die eigentlichen Ge-
lehrten nirgend das Uebergewicht haben; aber
Männer von praktischer Weltkenntniß und Lek-
türe, unterrichtete und gebildete Leute aus al-
len Klassen vertheilen sich in den Häusern vom
bessern Ton und geben hin und wieder der

Zweiter Theil. E e

nahme zwingt. Der Hof und die Reſidenz
bilden ein großes lebendiges Gemaͤlde, in wel-
chem ſich die kleinen Zuͤge und Schattirun-
gen unaufhoͤrlich veraͤndern; eine Begebenheit
draͤngt die andere; der Held des Tages iſt es
morgen nicht mehr; kaum von unſerm Blick
gefaßt, verſchwindet er unter der unbemerkten
Menge, und wir ſelbſt fuͤhlen uns erſtaunt
durch den Strom der Zeit und den Wechſel
der Dinge in neue Sphaͤren und unbekannte
Verhaͤltniſſe fortgewaͤlzt. Eine Abgeſchieden-
heit von wenigen Tagen iſolirt den Weltmann,
der au courant zu leben gewohnt iſt; er ſieht
ſich fremd in einer Welt, in der er ſich zu
Hauſe glaubte.

Wo die großen Gegenſtaͤnde der Konverſa-
tion nicht zureichen, da nimmt man ſeine Zu-
flucht zur Litteratur. Bey der Miſchung von
Staͤnden die hier in allen Geſellſchaften ſtatt
findet, iſt es natuͤrlich, daß die eigentlichen Ge-
lehrten nirgend das Uebergewicht haben; aber
Maͤnner von praktiſcher Weltkenntniß und Lek-
tuͤre, unterrichtete und gebildete Leute aus al-
len Klaſſen vertheilen ſich in den Haͤuſern vom
beſſern Ton und geben hin und wieder der

Zweiter Theil. E e
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[433/0451] nahme zwingt. Der Hof und die Reſidenz bilden ein großes lebendiges Gemaͤlde, in wel- chem ſich die kleinen Zuͤge und Schattirun- gen unaufhoͤrlich veraͤndern; eine Begebenheit draͤngt die andere; der Held des Tages iſt es morgen nicht mehr; kaum von unſerm Blick gefaßt, verſchwindet er unter der unbemerkten Menge, und wir ſelbſt fuͤhlen uns erſtaunt durch den Strom der Zeit und den Wechſel der Dinge in neue Sphaͤren und unbekannte Verhaͤltniſſe fortgewaͤlzt. Eine Abgeſchieden- heit von wenigen Tagen iſolirt den Weltmann, der au courant zu leben gewohnt iſt; er ſieht ſich fremd in einer Welt, in der er ſich zu Hauſe glaubte. Wo die großen Gegenſtaͤnde der Konverſa- tion nicht zureichen, da nimmt man ſeine Zu- flucht zur Litteratur. Bey der Miſchung von Staͤnden die hier in allen Geſellſchaften ſtatt findet, iſt es natuͤrlich, daß die eigentlichen Ge- lehrten nirgend das Uebergewicht haben; aber Maͤnner von praktiſcher Weltkenntniß und Lek- tuͤre, unterrichtete und gebildete Leute aus al- len Klaſſen vertheilen ſich in den Haͤuſern vom beſſern Ton und geben hin und wieder der Zweiter Theil. E e

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/451>, abgerufen am 23.11.2024.