Dorfe zu verweilen, ob sie etwa glaube, daß es in ihrem Hause nicht sicher sey? und be- theuert zugleich, daß sich keine Mannsperson in demselben befinde. Die Reisende, mit dem Karakter der Nation aus langen Erfahrungen bekannt, hütet sich wohl, diese Lüge zu wider- legen; sie äußert im Gegentheil das vollkom- menste Zutrauen, setzt sich mit der größten Ruhe zu ihrem Abendessen, langt eine Brant- weinsbouteille aus ihrem Flaschenfutter hervor, nöthigt die auf dem Ofen gelagerten Kerle herunter und theilt ihren Vorrath unter sie aus. Dieses Betragen, die Branteweinsflasche und die freundliche Mine der Geberinn thun ihre Wirkung; das eingeschlummerte aber nicht erstickte Gefühl der Menschlichkeit erwacht, und die originelle gutmüthige, sorgenlose und fröli- che Laune, die dem gemeinen Russen so eigen- thümlich ist, ergießt sich bald in lermende Ge- sänge. Als die Reisende sieht, daß sie ihren Zweck erreicht hat, legt sie sich in einem dar- anstoßenden Zimmer, dem Anschein nach ohne Unruhe, zu Bette, verbietet ihrem Bedienten Gepäck und Gewehr in die Stube zu bringen, und löscht endlich sogar das Licht aus. Beym
Dorfe zu verweilen, ob ſie etwa glaube, daß es in ihrem Hauſe nicht ſicher ſey? und be- theuert zugleich, daß ſich keine Mannsperſon in demſelben befinde. Die Reiſende, mit dem Karakter der Nation aus langen Erfahrungen bekannt, huͤtet ſich wohl, dieſe Luͤge zu wider- legen; ſie aͤußert im Gegentheil das vollkom- menſte Zutrauen, ſetzt ſich mit der groͤßten Ruhe zu ihrem Abendeſſen, langt eine Brant- weinsbouteille aus ihrem Flaſchenfutter hervor, noͤthigt die auf dem Ofen gelagerten Kerle herunter und theilt ihren Vorrath unter ſie aus. Dieſes Betragen, die Branteweinsflaſche und die freundliche Mine der Geberinn thun ihre Wirkung; das eingeſchlummerte aber nicht erſtickte Gefuͤhl der Menſchlichkeit erwacht, und die originelle gutmuͤthige, ſorgenloſe und froͤli- che Laune, die dem gemeinen Ruſſen ſo eigen- thuͤmlich iſt, ergießt ſich bald in lermende Ge- ſaͤnge. Als die Reiſende ſieht, daß ſie ihren Zweck erreicht hat, legt ſie ſich in einem dar- anſtoßenden Zimmer, dem Anſchein nach ohne Unruhe, zu Bette, verbietet ihrem Bedienten Gepaͤck und Gewehr in die Stube zu bringen, und loͤſcht endlich ſogar das Licht aus. Beym
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Dorfe zu verweilen, ob ſie etwa glaube, daß
es in ihrem Hauſe nicht ſicher ſey? und be-
theuert zugleich, daß ſich keine Mannsperſon
in demſelben befinde. Die Reiſende, mit dem
Karakter der Nation aus langen Erfahrungen
bekannt, huͤtet ſich wohl, dieſe Luͤge zu wider-
legen; ſie aͤußert im Gegentheil das vollkom-
menſte Zutrauen, ſetzt ſich mit der groͤßten
Ruhe zu ihrem Abendeſſen, langt eine Brant-
weinsbouteille aus ihrem Flaſchenfutter hervor,
noͤthigt die auf dem Ofen gelagerten Kerle
herunter und theilt ihren Vorrath unter ſie
aus. Dieſes Betragen, die Branteweinsflaſche
und die freundliche Mine der Geberinn thun
ihre Wirkung; das eingeſchlummerte aber nicht
erſtickte Gefuͤhl der Menſchlichkeit erwacht, und
die originelle gutmuͤthige, ſorgenloſe und froͤli-
che Laune, die dem gemeinen Ruſſen ſo eigen-
thuͤmlich iſt, ergießt ſich bald in lermende Ge-
ſaͤnge. Als die Reiſende ſieht, daß ſie ihren
Zweck erreicht hat, legt ſie ſich in einem dar-
anſtoßenden Zimmer, dem Anſchein nach ohne
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Gepaͤck und Gewehr in die Stube zu bringen,
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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 1. Riga, 1794, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg01_1794/204>, abgerufen am 22.11.2024.
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