vergraben; aus dem Positiven ist aber auch das christliche Weltalter nicht herausgekommen, d. h. aus der "beschränkten Freiheit", der Freiheit "innerhalb gewisser Schranken". Auf der vorgeschrittensten Bildungsstufe verdient diese Thätigkeit den Namen der wissenschaftlichen, des Arbeitens auf einer unbewegten Voraussetzung, einer unumstößlichen Hypothese.
In ihrer ersten und unverständlichsten Form giebt sich die Sittlichkeit als Gewohnheit. Nach seines Landes Sitte und Gewohnheit handeln -- heißt da sittlich sein. Darum wird ein reines sittliches Handeln, eine lautere, unverfälschte Sittlichkeit am schlichtesten in China geübt: man bleibt bei der allen Gewohnheit und Sitte, und haßt als todeswürdiges Verbrechen jegliche Neuerung. Denn die Neuerung ist der Todfeind der Gewohnheit, des Alten, der Beharrlich¬ keit. Es unterliegt auch in der That keinem Zweifel, daß der Mensch sich durch Gewohnheit gegen die Zudringlichkeit der Dinge, der Welt, sichert und eine eigene Welt gründet, in welcher er allein heimisch und zu Hause ist, d. h. sich einen Himmel erbaut. Hat ja doch der "Himmel" keinen andern Sinn, als den, daß er die eigentliche Heimath des Menschen sei, worin ihn nichts Fremdes mehr bestimmt und beherrscht, kein Einfluß des Irdischen mehr ihn selbst entfremdet, kurz wo¬ rin die Schlacken des Irdischen abgeworfen sind und der Kampf gegen die Welt ein Ende gefunden hat, worin ihm also nichts mehr versagt ist. Der Himmel ist das Ende der Entsagung, er ist der freie Genuß. Dort versagt sich der Mensch nichts mehr, weil ihm nichts mehr fremd und feindlich ist. Nun ist aber die Gewohnheit eine "andere Natur", welche den Menschen von seiner ersten und ursprünglichen Natürlichkeit ablöst und befreit, indem sie ihn gegen jede Zufälligkeit derselben sichert.
vergraben; aus dem Poſitiven iſt aber auch das chriſtliche Weltalter nicht herausgekommen, d. h. aus der „beſchränkten Freiheit“, der Freiheit „innerhalb gewiſſer Schranken“. Auf der vorgeſchrittenſten Bildungsſtufe verdient dieſe Thätigkeit den Namen der wiſſenſchaftlichen, des Arbeitens auf einer unbewegten Vorausſetzung, einer unumſtößlichen Hypotheſe.
In ihrer erſten und unverſtändlichſten Form giebt ſich die Sittlichkeit als Gewohnheit. Nach ſeines Landes Sitte und Gewohnheit handeln — heißt da ſittlich ſein. Darum wird ein reines ſittliches Handeln, eine lautere, unverfälſchte Sittlichkeit am ſchlichteſten in China geübt: man bleibt bei der allen Gewohnheit und Sitte, und haßt als todeswürdiges Verbrechen jegliche Neuerung. Denn die Neuerung iſt der Todfeind der Gewohnheit, des Alten, der Beharrlich¬ keit. Es unterliegt auch in der That keinem Zweifel, daß der Menſch ſich durch Gewohnheit gegen die Zudringlichkeit der Dinge, der Welt, ſichert und eine eigene Welt gründet, in welcher er allein heimiſch und zu Hauſe iſt, d. h. ſich einen Himmel erbaut. Hat ja doch der „Himmel“ keinen andern Sinn, als den, daß er die eigentliche Heimath des Menſchen ſei, worin ihn nichts Fremdes mehr beſtimmt und beherrſcht, kein Einfluß des Irdiſchen mehr ihn ſelbſt entfremdet, kurz wo¬ rin die Schlacken des Irdiſchen abgeworfen ſind und der Kampf gegen die Welt ein Ende gefunden hat, worin ihm alſo nichts mehr verſagt iſt. Der Himmel iſt das Ende der Entſagung, er iſt der freie Genuß. Dort verſagt ſich der Menſch nichts mehr, weil ihm nichts mehr fremd und feindlich iſt. Nun iſt aber die Gewohnheit eine „andere Natur“, welche den Menſchen von ſeiner erſten und urſprünglichen Natürlichkeit ablöſt und befreit, indem ſie ihn gegen jede Zufälligkeit derſelben ſichert.
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vergraben; aus dem Poſitiven iſt aber auch das chriſtliche
Weltalter nicht herausgekommen, d. h. aus der „beſchränkten
Freiheit“, der Freiheit „innerhalb gewiſſer Schranken“. Auf
der vorgeſchrittenſten Bildungsſtufe verdient dieſe Thätigkeit den
Namen der wiſſenſchaftlichen, des Arbeitens auf einer
unbewegten Vorausſetzung, einer unumſtößlichen Hypotheſe.
In ihrer erſten und unverſtändlichſten Form giebt ſich die
Sittlichkeit als Gewohnheit. Nach ſeines Landes Sitte
und Gewohnheit handeln — heißt da ſittlich ſein. Darum
wird ein reines ſittliches Handeln, eine lautere, unverfälſchte
Sittlichkeit am ſchlichteſten in China geübt: man bleibt bei
der allen Gewohnheit und Sitte, und haßt als todeswürdiges
Verbrechen jegliche Neuerung. Denn die Neuerung iſt der
Todfeind der Gewohnheit, des Alten, der Beharrlich¬
keit. Es unterliegt auch in der That keinem Zweifel, daß
der Menſch ſich durch Gewohnheit gegen die Zudringlichkeit
der Dinge, der Welt, ſichert und eine eigene Welt gründet, in
welcher er allein heimiſch und zu Hauſe iſt, d. h. ſich einen
Himmel erbaut. Hat ja doch der „Himmel“ keinen andern
Sinn, als den, daß er die eigentliche Heimath des Menſchen
ſei, worin ihn nichts Fremdes mehr beſtimmt und beherrſcht,
kein Einfluß des Irdiſchen mehr ihn ſelbſt entfremdet, kurz wo¬
rin die Schlacken des Irdiſchen abgeworfen ſind und der Kampf
gegen die Welt ein Ende gefunden hat, worin ihm alſo nichts mehr
verſagt iſt. Der Himmel iſt das Ende der Entſagung, er iſt
der freie Genuß. Dort verſagt ſich der Menſch nichts mehr,
weil ihm nichts mehr fremd und feindlich iſt. Nun iſt aber
die Gewohnheit eine „andere Natur“, welche den Menſchen
von ſeiner erſten und urſprünglichen Natürlichkeit ablöſt und
befreit, indem ſie ihn gegen jede Zufälligkeit derſelben ſichert.
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/97>, abgerufen am 24.11.2024.
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