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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Wie Ich Mich jedoch nicht dazu hergeben mag, eure neu ent¬
deckten Maschinen maschinenmäßig zu bedienen, sondern sie nur
zu meinem Nutzen in Gang setzen helfe, so will Ich auch
eure Wahrheiten nur gebrauchen, ohne Mich für ihre Forde¬
rungen gebrauchen zu lassen.

Alle Wahrheiten unter Mir sind Mir lieb; eine Wahr¬
heit über Mir, eine Wahrheit, nach der Ich Mich richten
müßte, kenne Ich nicht. Für Mich giebt es keine Wahrheit,
denn über Mich geht nichts! Auch nicht mein Wesen, auch
nicht das Wesen des Menschen geht über Mich! Und zwar
über Mich, diesen "Tropfen am Eimer", diesen "unbedeutenden
Menschen"!

Ihr glaubt das Aeußerste gethan zu haben, wenn Ihr
kühn behauptet, es gebe, weil jede Zeit ihre eigene Wahrheit
habe, keine "absolute Wahrheit". Damit laßt Ihr ja dennoch
jeder Zeit ihre Wahrheit, und erschafft so recht eigentlich eine
"absolute Wahrheit", eine Wahrheit, die keiner Zeit fehlt,
weil jede Zeit, wie ihre Wahrheit auch immer sei, doch eine
"Wahrheit" hat.

Soll nur gesagt sein, daß man in jeder Zeit gedacht, mit¬
hin Gedanken oder Wahrheiten gehabt hat, und daß diese in
der folgenden Zeit andere waren, als in der früheren? Nein,
es soll heißen, daß jede Zeit ihre "Glaubenswahrheit" hatte;
und in der That ist noch keine erschienen, worin nicht eine
"höhere Wahrheit" anerkannt worden wäre, eine Wahrheit,
der man als "Hoheit und Majestät" sich unterwerfen zu müssen
glaubte. Jede Wahrheit einer Zeit ist die fixe Idee derselben,
und wenn man später eine andere Wahrheit fand, so geschah
dieß immer nur, weil man eine andere suchte: man reformirte
nur die Narrheit und zog ihr ein modernes Kleid an. Denn

Wie Ich Mich jedoch nicht dazu hergeben mag, eure neu ent¬
deckten Maſchinen maſchinenmäßig zu bedienen, ſondern ſie nur
zu meinem Nutzen in Gang ſetzen helfe, ſo will Ich auch
eure Wahrheiten nur gebrauchen, ohne Mich für ihre Forde¬
rungen gebrauchen zu laſſen.

Alle Wahrheiten unter Mir ſind Mir lieb; eine Wahr¬
heit über Mir, eine Wahrheit, nach der Ich Mich richten
müßte, kenne Ich nicht. Für Mich giebt es keine Wahrheit,
denn über Mich geht nichts! Auch nicht mein Weſen, auch
nicht das Weſen des Menſchen geht über Mich! Und zwar
über Mich, dieſen „Tropfen am Eimer“, dieſen „unbedeutenden
Menſchen“!

Ihr glaubt das Aeußerſte gethan zu haben, wenn Ihr
kühn behauptet, es gebe, weil jede Zeit ihre eigene Wahrheit
habe, keine „abſolute Wahrheit“. Damit laßt Ihr ja dennoch
jeder Zeit ihre Wahrheit, und erſchafft ſo recht eigentlich eine
„abſolute Wahrheit“, eine Wahrheit, die keiner Zeit fehlt,
weil jede Zeit, wie ihre Wahrheit auch immer ſei, doch eine
„Wahrheit“ hat.

Soll nur geſagt ſein, daß man in jeder Zeit gedacht, mit¬
hin Gedanken oder Wahrheiten gehabt hat, und daß dieſe in
der folgenden Zeit andere waren, als in der früheren? Nein,
es ſoll heißen, daß jede Zeit ihre „Glaubenswahrheit“ hatte;
und in der That iſt noch keine erſchienen, worin nicht eine
„höhere Wahrheit“ anerkannt worden wäre, eine Wahrheit,
der man als „Hoheit und Majeſtät“ ſich unterwerfen zu müſſen
glaubte. Jede Wahrheit einer Zeit iſt die fixe Idee derſelben,
und wenn man ſpäter eine andere Wahrheit fand, ſo geſchah
dieß immer nur, weil man eine andere ſuchte: man reformirte
nur die Narrheit und zog ihr ein modernes Kleid an. Denn

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[475/0483] Wie Ich Mich jedoch nicht dazu hergeben mag, eure neu ent¬ deckten Maſchinen maſchinenmäßig zu bedienen, ſondern ſie nur zu meinem Nutzen in Gang ſetzen helfe, ſo will Ich auch eure Wahrheiten nur gebrauchen, ohne Mich für ihre Forde¬ rungen gebrauchen zu laſſen. Alle Wahrheiten unter Mir ſind Mir lieb; eine Wahr¬ heit über Mir, eine Wahrheit, nach der Ich Mich richten müßte, kenne Ich nicht. Für Mich giebt es keine Wahrheit, denn über Mich geht nichts! Auch nicht mein Weſen, auch nicht das Weſen des Menſchen geht über Mich! Und zwar über Mich, dieſen „Tropfen am Eimer“, dieſen „unbedeutenden Menſchen“! Ihr glaubt das Aeußerſte gethan zu haben, wenn Ihr kühn behauptet, es gebe, weil jede Zeit ihre eigene Wahrheit habe, keine „abſolute Wahrheit“. Damit laßt Ihr ja dennoch jeder Zeit ihre Wahrheit, und erſchafft ſo recht eigentlich eine „abſolute Wahrheit“, eine Wahrheit, die keiner Zeit fehlt, weil jede Zeit, wie ihre Wahrheit auch immer ſei, doch eine „Wahrheit“ hat. Soll nur geſagt ſein, daß man in jeder Zeit gedacht, mit¬ hin Gedanken oder Wahrheiten gehabt hat, und daß dieſe in der folgenden Zeit andere waren, als in der früheren? Nein, es ſoll heißen, daß jede Zeit ihre „Glaubenswahrheit“ hatte; und in der That iſt noch keine erſchienen, worin nicht eine „höhere Wahrheit“ anerkannt worden wäre, eine Wahrheit, der man als „Hoheit und Majeſtät“ ſich unterwerfen zu müſſen glaubte. Jede Wahrheit einer Zeit iſt die fixe Idee derſelben, und wenn man ſpäter eine andere Wahrheit fand, ſo geſchah dieß immer nur, weil man eine andere ſuchte: man reformirte nur die Narrheit und zog ihr ein modernes Kleid an. Denn

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/483>, abgerufen am 23.11.2024.