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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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heit entwickelt sich, herrscht, macht sich geltend, die Geschichte
(auch ein Begriff) siegt u. dergl. Niemals hat die Wahrheit
gesiegt, sondern stets war sie mein Mittel zum Siege, ähnlich
dem Schwerte ("das Schwert der Wahrheit"). Die Wahr¬
heit ist todt, ein Buchstabe, ein Wort, ein Material, das Ich
verbrauchen kann. Alle Wahrheit für sich ist todt, ein Leich¬
nam; lebendig ist sie nur in derselben Weise, wie meine Lunge
lebendig ist, nämlich in dem Maaße meiner eigenen Lebendig¬
keit. Die Wahrheiten sind Material wie Kraut und Unkraut;
ob Kraut oder Unkraut, darüber liegt die Entscheidung
in Mir.

Mir sind die Gegenstände nur Material, das Ich ver¬
brauche. Wo Ich hingreife, fasse Ich eine Wahrheit, die Ich
Mir zurichte. Die Wahrheit ist Mir gewiß, und Ich brauche
sie nicht zu ersehnen. Der Wahrheit einen Dienst zu leisten,
ist nirgends meine Absicht; sie ist Mir nur ein Nahrungsmittel
für meinen denkenden Kopf, wie die Kartoffel für meinen ver¬
dauenden Magen, der Freund für mein geselliges Herz. So
lange Ich Lust und Kraft zu denken habe, dient Mir jede
Wahrheit nur dazu, sie nach meinem Vermögen zu verarbeiten.
Wie für den Christen die Wirklichkeit oder Weltlichkeit, so ist
für Mich die Wahrheit "eitel und nichtig". Sie existirt ge¬
rade so gut, als die Dinge dieser Welt fortexistiren, obgleich
der Christ ihre Nichtigkeit bewiesen hat; aber sie ist eitel, weil sie
ihren Werth nicht in sich hat, sondern in Mir. Für sich
ist sie werthlos. Die Wahrheit ist eine -- Creatur.

Wie Ihr durch eure Thätigkeit unzählige Dinge herstellt,
ja den Erdboden neu gestaltet und überall Menschenwerke er¬
richtet, so mögt Ihr auch noch zahllose Wahrheiten durch euer
Denken ermitteln, und Wir wollen Uns gerne daran erfreuen.

heit entwickelt ſich, herrſcht, macht ſich geltend, die Geſchichte
(auch ein Begriff) ſiegt u. dergl. Niemals hat die Wahrheit
geſiegt, ſondern ſtets war ſie mein Mittel zum Siege, ähnlich
dem Schwerte („das Schwert der Wahrheit“). Die Wahr¬
heit iſt todt, ein Buchſtabe, ein Wort, ein Material, das Ich
verbrauchen kann. Alle Wahrheit für ſich iſt todt, ein Leich¬
nam; lebendig iſt ſie nur in derſelben Weiſe, wie meine Lunge
lebendig iſt, nämlich in dem Maaße meiner eigenen Lebendig¬
keit. Die Wahrheiten ſind Material wie Kraut und Unkraut;
ob Kraut oder Unkraut, darüber liegt die Entſcheidung
in Mir.

Mir ſind die Gegenſtände nur Material, das Ich ver¬
brauche. Wo Ich hingreife, faſſe Ich eine Wahrheit, die Ich
Mir zurichte. Die Wahrheit iſt Mir gewiß, und Ich brauche
ſie nicht zu erſehnen. Der Wahrheit einen Dienſt zu leiſten,
iſt nirgends meine Abſicht; ſie iſt Mir nur ein Nahrungsmittel
für meinen denkenden Kopf, wie die Kartoffel für meinen ver¬
dauenden Magen, der Freund für mein geſelliges Herz. So
lange Ich Luſt und Kraft zu denken habe, dient Mir jede
Wahrheit nur dazu, ſie nach meinem Vermögen zu verarbeiten.
Wie für den Chriſten die Wirklichkeit oder Weltlichkeit, ſo iſt
für Mich die Wahrheit „eitel und nichtig“. Sie exiſtirt ge¬
rade ſo gut, als die Dinge dieſer Welt fortexiſtiren, obgleich
der Chriſt ihre Nichtigkeit bewieſen hat; aber ſie iſt eitel, weil ſie
ihren Werth nicht in ſich hat, ſondern in Mir. Für ſich
iſt ſie werthlos. Die Wahrheit iſt eine — Creatur.

Wie Ihr durch eure Thätigkeit unzählige Dinge herſtellt,
ja den Erdboden neu geſtaltet und überall Menſchenwerke er¬
richtet, ſo mögt Ihr auch noch zahlloſe Wahrheiten durch euer
Denken ermitteln, und Wir wollen Uns gerne daran erfreuen.

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[474/0482] heit entwickelt ſich, herrſcht, macht ſich geltend, die Geſchichte (auch ein Begriff) ſiegt u. dergl. Niemals hat die Wahrheit geſiegt, ſondern ſtets war ſie mein Mittel zum Siege, ähnlich dem Schwerte („das Schwert der Wahrheit“). Die Wahr¬ heit iſt todt, ein Buchſtabe, ein Wort, ein Material, das Ich verbrauchen kann. Alle Wahrheit für ſich iſt todt, ein Leich¬ nam; lebendig iſt ſie nur in derſelben Weiſe, wie meine Lunge lebendig iſt, nämlich in dem Maaße meiner eigenen Lebendig¬ keit. Die Wahrheiten ſind Material wie Kraut und Unkraut; ob Kraut oder Unkraut, darüber liegt die Entſcheidung in Mir. Mir ſind die Gegenſtände nur Material, das Ich ver¬ brauche. Wo Ich hingreife, faſſe Ich eine Wahrheit, die Ich Mir zurichte. Die Wahrheit iſt Mir gewiß, und Ich brauche ſie nicht zu erſehnen. Der Wahrheit einen Dienſt zu leiſten, iſt nirgends meine Abſicht; ſie iſt Mir nur ein Nahrungsmittel für meinen denkenden Kopf, wie die Kartoffel für meinen ver¬ dauenden Magen, der Freund für mein geſelliges Herz. So lange Ich Luſt und Kraft zu denken habe, dient Mir jede Wahrheit nur dazu, ſie nach meinem Vermögen zu verarbeiten. Wie für den Chriſten die Wirklichkeit oder Weltlichkeit, ſo iſt für Mich die Wahrheit „eitel und nichtig“. Sie exiſtirt ge¬ rade ſo gut, als die Dinge dieſer Welt fortexiſtiren, obgleich der Chriſt ihre Nichtigkeit bewieſen hat; aber ſie iſt eitel, weil ſie ihren Werth nicht in ſich hat, ſondern in Mir. Für ſich iſt ſie werthlos. Die Wahrheit iſt eine — Creatur. Wie Ihr durch eure Thätigkeit unzählige Dinge herſtellt, ja den Erdboden neu geſtaltet und überall Menſchenwerke er¬ richtet, ſo mögt Ihr auch noch zahlloſe Wahrheiten durch euer Denken ermitteln, und Wir wollen Uns gerne daran erfreuen.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/482>, abgerufen am 23.11.2024.