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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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"die Wahrheit", denn sie ist die unsterbliche Seele dieser ver¬
gänglichen Götterwelt, sie ist die Gottheit selber.

Ich will antworten auf die Frage des Pilatus: Was ist
Wahrheit? Wahrheit ist der freie Gedanke, die freie Idee, der
freie Geist; Wahrheit ist, was von Dir frei, was nicht dein
eigen, was nicht in deiner Gewalt ist. Aber Wahrheit ist auch
das völlig Unselbständige, Unpersönliche, Unwirkliche und Unbe¬
leibte; Wahrheit kann nicht auftreten, wie Du auftrittst, kann
sich nicht bewegen, nicht ändern, nicht entwickeln: Wahrheit er¬
wartet und empfängt alles von Dir und ist selbst nur durch Dich:
denn sie existirt nur in -- deinem Kopfe. Du giebst das zu,
daß die Wahrheit ein Gedanke sei, aber nicht jeder Gedanke
sei ein wahrer, oder, wie Du's auch wohl ausdrückst, nicht jeder
Gedanke ist wahrhaft und wirklich Gedanke. Und woran missest
und erkennst Du den wahren Gedanken? An deiner Ohn¬
macht
, nämlich daran, daß Du ihm nichts mehr anhaben
kannst! Wenn er Dich überwältigt, begeistert und fortreißt,
dann hälst Du ihn für den wahren. Seine Herrschaft über
Dich documentirt Dir seine Wahrheit, und wenn er Dich be¬
sitzt und Du von ihm besessen bist, dann ist Dir wohl bei ihm,
denn dann hast Du deinen -- Herrn und Meister gefunden.
Als Du die Wahrheit suchtest, wonach sehnte sich dein Herz
da? Nach deinem Herrn! Du trachtetest nicht nach deiner
Gewalt, sondern nach einem Gewaltigen, und wolltest einen
Gewaltigen erhöhen ("Erhöhet den Herrn, unsern Gott!").
Die Wahrheit, mein lieber Pilatus, ist -- der Herr, und
Alle, welche die Wahrheit suchen, suchen und preisen den Herrn.
Wo existirt der Herr? Wo anders als in deinem Kopfe?
Er ist nur Geist, und wo immer Du ihn wirklich zu erblicken
glaubst, da ist er ein -- Gespenst; der Herr ist ja bloß ein

„die Wahrheit“, denn ſie iſt die unſterbliche Seele dieſer ver¬
gänglichen Götterwelt, ſie iſt die Gottheit ſelber.

Ich will antworten auf die Frage des Pilatus: Was iſt
Wahrheit? Wahrheit iſt der freie Gedanke, die freie Idee, der
freie Geiſt; Wahrheit iſt, was von Dir frei, was nicht dein
eigen, was nicht in deiner Gewalt iſt. Aber Wahrheit iſt auch
das völlig Unſelbſtändige, Unperſönliche, Unwirkliche und Unbe¬
leibte; Wahrheit kann nicht auftreten, wie Du auftrittſt, kann
ſich nicht bewegen, nicht ändern, nicht entwickeln: Wahrheit er¬
wartet und empfängt alles von Dir und iſt ſelbſt nur durch Dich:
denn ſie exiſtirt nur in — deinem Kopfe. Du giebſt das zu,
daß die Wahrheit ein Gedanke ſei, aber nicht jeder Gedanke
ſei ein wahrer, oder, wie Du's auch wohl ausdrückſt, nicht jeder
Gedanke iſt wahrhaft und wirklich Gedanke. Und woran miſſeſt
und erkennſt Du den wahren Gedanken? An deiner Ohn¬
macht
, nämlich daran, daß Du ihm nichts mehr anhaben
kannſt! Wenn er Dich überwältigt, begeiſtert und fortreißt,
dann hälſt Du ihn für den wahren. Seine Herrſchaft über
Dich documentirt Dir ſeine Wahrheit, und wenn er Dich be¬
ſitzt und Du von ihm beſeſſen biſt, dann iſt Dir wohl bei ihm,
denn dann hast Du deinen — Herrn und Meiſter gefunden.
Als Du die Wahrheit ſuchteſt, wonach ſehnte ſich dein Herz
da? Nach deinem Herrn! Du trachteteſt nicht nach deiner
Gewalt, ſondern nach einem Gewaltigen, und wollteſt einen
Gewaltigen erhöhen („Erhöhet den Herrn, unſern Gott!“).
Die Wahrheit, mein lieber Pilatus, iſt — der Herr, und
Alle, welche die Wahrheit ſuchen, ſuchen und preiſen den Herrn.
Wo exiſtirt der Herr? Wo anders als in deinem Kopfe?
Er iſt nur Geiſt, und wo immer Du ihn wirklich zu erblicken
glaubſt, da iſt er ein — Geſpenſt; der Herr iſt ja bloß ein

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[472/0480] „die Wahrheit“, denn ſie iſt die unſterbliche Seele dieſer ver¬ gänglichen Götterwelt, ſie iſt die Gottheit ſelber. Ich will antworten auf die Frage des Pilatus: Was iſt Wahrheit? Wahrheit iſt der freie Gedanke, die freie Idee, der freie Geiſt; Wahrheit iſt, was von Dir frei, was nicht dein eigen, was nicht in deiner Gewalt iſt. Aber Wahrheit iſt auch das völlig Unſelbſtändige, Unperſönliche, Unwirkliche und Unbe¬ leibte; Wahrheit kann nicht auftreten, wie Du auftrittſt, kann ſich nicht bewegen, nicht ändern, nicht entwickeln: Wahrheit er¬ wartet und empfängt alles von Dir und iſt ſelbſt nur durch Dich: denn ſie exiſtirt nur in — deinem Kopfe. Du giebſt das zu, daß die Wahrheit ein Gedanke ſei, aber nicht jeder Gedanke ſei ein wahrer, oder, wie Du's auch wohl ausdrückſt, nicht jeder Gedanke iſt wahrhaft und wirklich Gedanke. Und woran miſſeſt und erkennſt Du den wahren Gedanken? An deiner Ohn¬ macht, nämlich daran, daß Du ihm nichts mehr anhaben kannſt! Wenn er Dich überwältigt, begeiſtert und fortreißt, dann hälſt Du ihn für den wahren. Seine Herrſchaft über Dich documentirt Dir ſeine Wahrheit, und wenn er Dich be¬ ſitzt und Du von ihm beſeſſen biſt, dann iſt Dir wohl bei ihm, denn dann hast Du deinen — Herrn und Meiſter gefunden. Als Du die Wahrheit ſuchteſt, wonach ſehnte ſich dein Herz da? Nach deinem Herrn! Du trachteteſt nicht nach deiner Gewalt, ſondern nach einem Gewaltigen, und wollteſt einen Gewaltigen erhöhen („Erhöhet den Herrn, unſern Gott!“). Die Wahrheit, mein lieber Pilatus, iſt — der Herr, und Alle, welche die Wahrheit ſuchen, ſuchen und preiſen den Herrn. Wo exiſtirt der Herr? Wo anders als in deinem Kopfe? Er iſt nur Geiſt, und wo immer Du ihn wirklich zu erblicken glaubſt, da iſt er ein — Geſpenſt; der Herr iſt ja bloß ein

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/480>, abgerufen am 23.11.2024.