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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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daß selbst diejenigen, gegen welche sie gerichtet ist, ihrer harm¬
losen Wendung sich ergäben, wenn nicht practische Folgen sich
daran knüpften.

Um diese in einen bündigen Ausdruck zu bringen, so wird
nun behauptet, daß nicht der Mensch das Maaß von Allem,
sondern daß Ich dieses Maaß sei. Der dienstbare Kritiker
hat ein anderes Wesen, eine Idee, vor Augen, welchem er
dienen will; darum schlachtet er seinem Gotte nur die falschen
Götzen. Was diesem Wesen zu Liebe geschieht, was wäre es
anders, als ein -- Werk der Liebe? Ich aber habe, wenn
Ich kritisire, nicht einmal Mich vor Augen, sondern mache Mir
nur ein Vergnügen, amüsire Mich nach meinem Geschmacke:
je nach meinem Bedürfniß zerkaue Ich die Sache, oder ziehe
nur ihren Duft ein.

Sprechender noch wird der Unterschied beider Verfassungs¬
arten sich herausstellen, wenn man bedenkt, daß der dienstbare
Kritiker, weil ihn die Liebe leitet, der Sache selbst zu die¬
nen meint.

Die Wahrheit oder "die Wahrheit überhaupt" will man
nicht aufgeben, sondern suchen. Was ist sie anders als das
etre supreme, das höchste Wesen? Verzweifeln müßte auch
die "wahre Kritik", wenn sie den Glauben an die Wahrheit
verlöre. Und doch ist die Wahrheit nur ein -- Gedanke,
aber nicht bloß einer, sondern sie ist der Gedanke, der über
alle Gedanken ist, der unumstößliche Gedanke, sie ist der Ge¬
danke selbst, der alle andern erst heiligt, ist die Weihe der
Gedanken, der "absolute", der "heilige" Gedanke. Die Wahr¬
heit hält länger vor, als alle Götter; denn nur in ihrem
Dienste und ihr zu Liebe hat man die Götter und zuletzt selbst
den Gott gestürzt. Den Untergang der Götterwelt überdauert

daß ſelbſt diejenigen, gegen welche ſie gerichtet iſt, ihrer harm¬
loſen Wendung ſich ergäben, wenn nicht practiſche Folgen ſich
daran knüpften.

Um dieſe in einen bündigen Ausdruck zu bringen, ſo wird
nun behauptet, daß nicht der Menſch das Maaß von Allem,
ſondern daß Ich dieſes Maaß ſei. Der dienſtbare Kritiker
hat ein anderes Weſen, eine Idee, vor Augen, welchem er
dienen will; darum ſchlachtet er ſeinem Gotte nur die falſchen
Götzen. Was dieſem Weſen zu Liebe geſchieht, was wäre es
anders, als ein — Werk der Liebe? Ich aber habe, wenn
Ich kritiſire, nicht einmal Mich vor Augen, ſondern mache Mir
nur ein Vergnügen, amüſire Mich nach meinem Geſchmacke:
je nach meinem Bedürfniß zerkaue Ich die Sache, oder ziehe
nur ihren Duft ein.

Sprechender noch wird der Unterſchied beider Verfaſſungs¬
arten ſich herausſtellen, wenn man bedenkt, daß der dienſtbare
Kritiker, weil ihn die Liebe leitet, der Sache ſelbſt zu die¬
nen meint.

Die Wahrheit oder „die Wahrheit überhaupt“ will man
nicht aufgeben, ſondern ſuchen. Was iſt ſie anders als das
être suprême, das höchſte Weſen? Verzweifeln müßte auch
die „wahre Kritik“, wenn ſie den Glauben an die Wahrheit
verlöre. Und doch iſt die Wahrheit nur ein — Gedanke,
aber nicht bloß einer, ſondern ſie iſt der Gedanke, der über
alle Gedanken iſt, der unumſtößliche Gedanke, ſie iſt der Ge¬
danke ſelbſt, der alle andern erſt heiligt, iſt die Weihe der
Gedanken, der „abſolute“, der „heilige“ Gedanke. Die Wahr¬
heit hält länger vor, als alle Götter; denn nur in ihrem
Dienſte und ihr zu Liebe hat man die Götter und zuletzt ſelbſt
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[471/0479] daß ſelbſt diejenigen, gegen welche ſie gerichtet iſt, ihrer harm¬ loſen Wendung ſich ergäben, wenn nicht practiſche Folgen ſich daran knüpften. Um dieſe in einen bündigen Ausdruck zu bringen, ſo wird nun behauptet, daß nicht der Menſch das Maaß von Allem, ſondern daß Ich dieſes Maaß ſei. Der dienſtbare Kritiker hat ein anderes Weſen, eine Idee, vor Augen, welchem er dienen will; darum ſchlachtet er ſeinem Gotte nur die falſchen Götzen. Was dieſem Weſen zu Liebe geſchieht, was wäre es anders, als ein — Werk der Liebe? Ich aber habe, wenn Ich kritiſire, nicht einmal Mich vor Augen, ſondern mache Mir nur ein Vergnügen, amüſire Mich nach meinem Geſchmacke: je nach meinem Bedürfniß zerkaue Ich die Sache, oder ziehe nur ihren Duft ein. Sprechender noch wird der Unterſchied beider Verfaſſungs¬ arten ſich herausſtellen, wenn man bedenkt, daß der dienſtbare Kritiker, weil ihn die Liebe leitet, der Sache ſelbſt zu die¬ nen meint. Die Wahrheit oder „die Wahrheit überhaupt“ will man nicht aufgeben, ſondern ſuchen. Was iſt ſie anders als das être suprême, das höchſte Weſen? Verzweifeln müßte auch die „wahre Kritik“, wenn ſie den Glauben an die Wahrheit verlöre. Und doch iſt die Wahrheit nur ein — Gedanke, aber nicht bloß einer, ſondern ſie iſt der Gedanke, der über alle Gedanken iſt, der unumſtößliche Gedanke, ſie iſt der Ge¬ danke ſelbſt, der alle andern erſt heiligt, iſt die Weihe der Gedanken, der „abſolute“, der „heilige“ Gedanke. Die Wahr¬ heit hält länger vor, als alle Götter; denn nur in ihrem Dienſte und ihr zu Liebe hat man die Götter und zuletzt ſelbſt den Gott geſtürzt. Den Untergang der Götterwelt überdauert

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/479>, abgerufen am 23.11.2024.