Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

könne) ist kein Heil für Mich, so wenig als für den Christen
in den Dingen und Eitelkeiten. Wie Mich die Reichthümer
dieser Welt nicht glücklich machen, so auch die Wahrheiten
nicht. Die Versuchungsgeschichte spielt jetzt nicht mehr der
Satan, sondern der Geist, und dieser verführt nicht durch die
Dinge dieser Welt, sondern durch die Gedanken derselben, durch
den "Glanz der Idee".

Neben den weltlichen Gütern müssen auch alle heiligen
Güter entwerthet hingestellt werden.

Wahrheiten sind Phrasen, Redensarten, Worte (logos);
in Zusammenhang oder in Reih' und Glied gebracht, bilden
sie die Logik, die Wissenschaft, die Philosophie.

Zum Denken und Sprechen brauche Ich die Wahrheiten
und Worte, wie zum Essen die Speisen; ohne sie kann Ich
nicht denken noch sprechen. Die Wahrheiten sind der Men¬
schen Gedanken, in Worten niedergelegt und deshalb ebenso
vorhanden, wie andere Dinge, obgleich nur für den Geist oder
das Denken vorhanden. Sie sind Menschensatzungen und
menschliche Geschöpfe, und wenn man sie auch für göttliche
Offenbarungen ausgiebt, so bleibt ihnen doch die Eigenschaft
der Fremdheit für Mich, ja als meine eigenen Geschöpfe sind
sie nach dem Schöpfungsacte Mir bereits entfremdet.

Der Christenmensch ist der Denkgläubige, der an die
Oberherrschaft der Gedanken glaubt und Gedanken, sogenannte
"Principien" zur Herrschaft bringen will. Zwar prüft Man¬
cher die Gedanken und wählt keinen derselben ohne Kritik zu
seinem Herrn, aber er gleicht darin dem Hunde, der die Leute
beschnoppert, um "seinen Herrn" herauszuriechen: aus den
herrschenden Gedanken sieht er's allezeit ab. Der Christ
kann unendlich viel reformiren und revoltiren, kann die herr¬

30

könne) iſt kein Heil für Mich, ſo wenig als für den Chriſten
in den Dingen und Eitelkeiten. Wie Mich die Reichthümer
dieſer Welt nicht glücklich machen, ſo auch die Wahrheiten
nicht. Die Verſuchungsgeſchichte ſpielt jetzt nicht mehr der
Satan, ſondern der Geiſt, und dieſer verführt nicht durch die
Dinge dieſer Welt, ſondern durch die Gedanken derſelben, durch
den „Glanz der Idee“.

Neben den weltlichen Gütern müſſen auch alle heiligen
Güter entwerthet hingeſtellt werden.

Wahrheiten ſind Phraſen, Redensarten, Worte (λόγος);
in Zuſammenhang oder in Reih' und Glied gebracht, bilden
ſie die Logik, die Wiſſenſchaft, die Philoſophie.

Zum Denken und Sprechen brauche Ich die Wahrheiten
und Worte, wie zum Eſſen die Speiſen; ohne ſie kann Ich
nicht denken noch ſprechen. Die Wahrheiten ſind der Men¬
ſchen Gedanken, in Worten niedergelegt und deshalb ebenſo
vorhanden, wie andere Dinge, obgleich nur für den Geiſt oder
das Denken vorhanden. Sie ſind Menſchenſatzungen und
menſchliche Geſchöpfe, und wenn man ſie auch für göttliche
Offenbarungen ausgiebt, ſo bleibt ihnen doch die Eigenſchaft
der Fremdheit für Mich, ja als meine eigenen Geſchöpfe ſind
ſie nach dem Schöpfungsacte Mir bereits entfremdet.

Der Chriſtenmenſch iſt der Denkgläubige, der an die
Oberherrſchaft der Gedanken glaubt und Gedanken, ſogenannte
„Principien“ zur Herrſchaft bringen will. Zwar prüft Man¬
cher die Gedanken und wählt keinen derſelben ohne Kritik zu
ſeinem Herrn, aber er gleicht darin dem Hunde, der die Leute
beſchnoppert, um „ſeinen Herrn“ herauszuriechen: aus den
herrſchenden Gedanken ſieht er's allezeit ab. Der Chriſt
kann unendlich viel reformiren und revoltiren, kann die herr¬

30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0473" n="465"/>
könne) i&#x017F;t kein Heil für Mich, &#x017F;o wenig als für den Chri&#x017F;ten<lb/>
in den Dingen und Eitelkeiten. Wie Mich die Reichthümer<lb/>
die&#x017F;er Welt nicht glücklich machen, &#x017F;o auch die Wahrheiten<lb/>
nicht. Die Ver&#x017F;uchungsge&#x017F;chichte &#x017F;pielt jetzt nicht mehr der<lb/>
Satan, &#x017F;ondern der Gei&#x017F;t, und die&#x017F;er verführt nicht durch die<lb/>
Dinge die&#x017F;er Welt, &#x017F;ondern durch die Gedanken der&#x017F;elben, durch<lb/>
den &#x201E;Glanz der Idee&#x201C;.</p><lb/>
            <p>Neben den weltlichen Gütern mü&#x017F;&#x017F;en auch alle heiligen<lb/>
Güter entwerthet hinge&#x017F;tellt werden.</p><lb/>
            <p>Wahrheiten &#x017F;ind Phra&#x017F;en, Redensarten, Worte (&#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2;);<lb/>
in Zu&#x017F;ammenhang oder in Reih' und Glied gebracht, bilden<lb/>
&#x017F;ie die Logik, die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, die Philo&#x017F;ophie.</p><lb/>
            <p>Zum Denken und Sprechen brauche Ich die Wahrheiten<lb/>
und Worte, wie zum E&#x017F;&#x017F;en die Spei&#x017F;en; ohne &#x017F;ie kann Ich<lb/>
nicht denken noch &#x017F;prechen. Die Wahrheiten &#x017F;ind der Men¬<lb/>
&#x017F;chen Gedanken, in Worten niedergelegt und deshalb eben&#x017F;o<lb/>
vorhanden, wie andere Dinge, obgleich nur für den Gei&#x017F;t oder<lb/>
das Denken vorhanden. Sie &#x017F;ind Men&#x017F;chen&#x017F;atzungen und<lb/>
men&#x017F;chliche Ge&#x017F;chöpfe, und wenn man &#x017F;ie auch für göttliche<lb/>
Offenbarungen ausgiebt, &#x017F;o bleibt ihnen doch die Eigen&#x017F;chaft<lb/>
der Fremdheit für Mich, ja als meine eigenen Ge&#x017F;chöpfe &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;ie nach dem Schöpfungsacte Mir bereits entfremdet.</p><lb/>
            <p>Der Chri&#x017F;tenmen&#x017F;ch i&#x017F;t der Denkgläubige, der an die<lb/>
Oberherr&#x017F;chaft der Gedanken glaubt und Gedanken, &#x017F;ogenannte<lb/>
&#x201E;Principien&#x201C; zur Herr&#x017F;chaft bringen will. Zwar prüft Man¬<lb/>
cher die Gedanken und wählt keinen der&#x017F;elben ohne Kritik zu<lb/>
&#x017F;einem Herrn, aber er gleicht darin dem Hunde, der die Leute<lb/>
be&#x017F;chnoppert, um &#x201E;&#x017F;einen Herrn&#x201C; herauszuriechen: aus den<lb/><hi rendition="#g">herr&#x017F;chenden</hi> Gedanken &#x017F;ieht er's allezeit ab. Der Chri&#x017F;t<lb/>
kann unendlich viel reformiren und revoltiren, kann die herr¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">30<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[465/0473] könne) iſt kein Heil für Mich, ſo wenig als für den Chriſten in den Dingen und Eitelkeiten. Wie Mich die Reichthümer dieſer Welt nicht glücklich machen, ſo auch die Wahrheiten nicht. Die Verſuchungsgeſchichte ſpielt jetzt nicht mehr der Satan, ſondern der Geiſt, und dieſer verführt nicht durch die Dinge dieſer Welt, ſondern durch die Gedanken derſelben, durch den „Glanz der Idee“. Neben den weltlichen Gütern müſſen auch alle heiligen Güter entwerthet hingeſtellt werden. Wahrheiten ſind Phraſen, Redensarten, Worte (λόγος); in Zuſammenhang oder in Reih' und Glied gebracht, bilden ſie die Logik, die Wiſſenſchaft, die Philoſophie. Zum Denken und Sprechen brauche Ich die Wahrheiten und Worte, wie zum Eſſen die Speiſen; ohne ſie kann Ich nicht denken noch ſprechen. Die Wahrheiten ſind der Men¬ ſchen Gedanken, in Worten niedergelegt und deshalb ebenſo vorhanden, wie andere Dinge, obgleich nur für den Geiſt oder das Denken vorhanden. Sie ſind Menſchenſatzungen und menſchliche Geſchöpfe, und wenn man ſie auch für göttliche Offenbarungen ausgiebt, ſo bleibt ihnen doch die Eigenſchaft der Fremdheit für Mich, ja als meine eigenen Geſchöpfe ſind ſie nach dem Schöpfungsacte Mir bereits entfremdet. Der Chriſtenmenſch iſt der Denkgläubige, der an die Oberherrſchaft der Gedanken glaubt und Gedanken, ſogenannte „Principien“ zur Herrſchaft bringen will. Zwar prüft Man¬ cher die Gedanken und wählt keinen derſelben ohne Kritik zu ſeinem Herrn, aber er gleicht darin dem Hunde, der die Leute beſchnoppert, um „ſeinen Herrn“ herauszuriechen: aus den herrſchenden Gedanken ſieht er's allezeit ab. Der Chriſt kann unendlich viel reformiren und revoltiren, kann die herr¬ 30

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/473
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/473>, abgerufen am 23.11.2024.