Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

kann. Daß Ich Mich "vernehmbar" mache, das allein
ist "Vernunft", sei Ich auch noch so unvernünftig; indem Ich
Mich vernehmen lasse und so Mich selbst vernehme, genießen
Andere sowohl als Ich selber Mich, und verzehren Mich
zugleich.

Was wäre denn gewonnen, wenn, wie früher das recht¬
gläubige, das loyale, das sittliche u.s.w. Ich frei war,
nun das vernünftige Ich frei würde? Wäre dieß die Frei¬
heit Meiner?

Bin Ich als "vernünftiges Ich" frei, so ist das Vernünf¬
tige an Mir oder die Vernunft frei, und diese Freiheit der
Vernunft oder Freiheit des Gedankens war von jeher das Ideal
der christlichen Welt. Das Denken -- und, wie gesagt, ist
der Glaube auch Denken, wie das Denken Glaube ist --
wollte man frei machen, die Denkenden, d. h. sowohl die
Gläubigen als die Vernünftigen, sollten frei sein, für die
Uebrigen war Freiheit unmöglich. Die Freiheit der Denken¬
den aber ist die "Freiheit der Kinder Gottes" und zugleich die
unbarmherzigste -- Hierarchie oder Herrschaft des Gedankens:
denn dem Gedanken erliege Ich. Sind die Gedanken frei, so
bin Ich ihr Sklave, so habe Ich keine Gewalt über sie und
werde von ihnen beherrscht. Ich aber will den Gedanken ha¬
ben, will voller Gedanken sein, aber zugleich will Ich gedan¬
kenlos sein, und bewahre Mir statt der Gedankenfreiheit die
Gedankenlosigkeit.

Kommt es darauf an, sich zu verständigen und mitzuthei¬
len, so kann Ich allerdings nur von den menschlichen Mit¬
teln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Mensch
bin, zu Gebote stehen. Und wirklich habe Ich nur als
Mensch
Gedanken, als Ich bin Ich zugleich gedankenlos.

kann. Daß Ich Mich „vernehmbar“ mache, das allein
iſt „Vernunft“, ſei Ich auch noch ſo unvernünftig; indem Ich
Mich vernehmen laſſe und ſo Mich ſelbſt vernehme, genießen
Andere ſowohl als Ich ſelber Mich, und verzehren Mich
zugleich.

Was wäre denn gewonnen, wenn, wie früher das recht¬
gläubige, das loyale, das ſittliche u.ſ.w. Ich frei war,
nun das vernünftige Ich frei würde? Wäre dieß die Frei¬
heit Meiner?

Bin Ich als „vernünftiges Ich“ frei, ſo iſt das Vernünf¬
tige an Mir oder die Vernunft frei, und dieſe Freiheit der
Vernunft oder Freiheit des Gedankens war von jeher das Ideal
der chriſtlichen Welt. Das Denken — und, wie geſagt, iſt
der Glaube auch Denken, wie das Denken Glaube iſt —
wollte man frei machen, die Denkenden, d. h. ſowohl die
Gläubigen als die Vernünftigen, ſollten frei ſein, für die
Uebrigen war Freiheit unmöglich. Die Freiheit der Denken¬
den aber iſt die „Freiheit der Kinder Gottes“ und zugleich die
unbarmherzigſte — Hierarchie oder Herrſchaft des Gedankens:
denn dem Gedanken erliege Ich. Sind die Gedanken frei, ſo
bin Ich ihr Sklave, ſo habe Ich keine Gewalt über ſie und
werde von ihnen beherrſcht. Ich aber will den Gedanken ha¬
ben, will voller Gedanken ſein, aber zugleich will Ich gedan¬
kenlos ſein, und bewahre Mir ſtatt der Gedankenfreiheit die
Gedankenloſigkeit.

Kommt es darauf an, ſich zu verſtändigen und mitzuthei¬
len, ſo kann Ich allerdings nur von den menſchlichen Mit¬
teln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Menſch
bin, zu Gebote ſtehen. Und wirklich habe Ich nur als
Menſch
Gedanken, als Ich bin Ich zugleich gedankenlos.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0470" n="462"/>
kann. Daß Ich Mich &#x201E;<hi rendition="#g">vernehmbar</hi>&#x201C; mache, das allein<lb/>
i&#x017F;t &#x201E;Vernunft&#x201C;, &#x017F;ei Ich auch noch &#x017F;o unvernünftig; indem Ich<lb/>
Mich vernehmen la&#x017F;&#x017F;e und &#x017F;o Mich &#x017F;elb&#x017F;t vernehme, genießen<lb/>
Andere &#x017F;owohl als Ich &#x017F;elber Mich, und verzehren Mich<lb/>
zugleich.</p><lb/>
            <p>Was wäre denn gewonnen, wenn, wie früher das recht¬<lb/>
gläubige, das loyale, das &#x017F;ittliche u.&#x017F;.w. Ich frei war,<lb/>
nun das vernünftige Ich frei würde? Wäre dieß die Frei¬<lb/>
heit Meiner?</p><lb/>
            <p>Bin Ich als &#x201E;vernünftiges Ich&#x201C; frei, &#x017F;o i&#x017F;t das Vernünf¬<lb/>
tige an Mir oder die Vernunft frei, und die&#x017F;e Freiheit der<lb/>
Vernunft oder Freiheit des Gedankens war von jeher das Ideal<lb/>
der chri&#x017F;tlichen Welt. Das Denken &#x2014; und, wie ge&#x017F;agt, i&#x017F;t<lb/>
der Glaube auch Denken, wie das Denken Glaube i&#x017F;t &#x2014;<lb/>
wollte man frei machen, die Denkenden, d. h. &#x017F;owohl die<lb/>
Gläubigen als die Vernünftigen, &#x017F;ollten frei &#x017F;ein, für die<lb/>
Uebrigen war Freiheit unmöglich. Die Freiheit der Denken¬<lb/>
den aber i&#x017F;t die &#x201E;Freiheit der Kinder Gottes&#x201C; und zugleich die<lb/>
unbarmherzig&#x017F;te &#x2014; Hierarchie oder Herr&#x017F;chaft des Gedankens:<lb/>
denn dem Gedanken erliege <hi rendition="#g">Ich</hi>. Sind die Gedanken frei, &#x017F;o<lb/>
bin Ich ihr Sklave, &#x017F;o habe Ich keine Gewalt über &#x017F;ie und<lb/>
werde von ihnen beherr&#x017F;cht. Ich aber will den Gedanken ha¬<lb/>
ben, will voller Gedanken &#x017F;ein, aber zugleich will Ich gedan¬<lb/>
kenlos &#x017F;ein, und bewahre Mir &#x017F;tatt der Gedankenfreiheit die<lb/>
Gedankenlo&#x017F;igkeit.</p><lb/>
            <p>Kommt es darauf an, &#x017F;ich zu ver&#x017F;tändigen und mitzuthei¬<lb/>
len, &#x017F;o kann Ich allerdings nur von den <hi rendition="#g">men&#x017F;chlichen</hi> Mit¬<lb/>
teln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Men&#x017F;ch<lb/>
bin, zu Gebote &#x017F;tehen. Und wirklich habe Ich nur <hi rendition="#g">als<lb/>
Men&#x017F;ch</hi> Gedanken, als Ich bin Ich zugleich <hi rendition="#g">gedankenlos</hi>.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[462/0470] kann. Daß Ich Mich „vernehmbar“ mache, das allein iſt „Vernunft“, ſei Ich auch noch ſo unvernünftig; indem Ich Mich vernehmen laſſe und ſo Mich ſelbſt vernehme, genießen Andere ſowohl als Ich ſelber Mich, und verzehren Mich zugleich. Was wäre denn gewonnen, wenn, wie früher das recht¬ gläubige, das loyale, das ſittliche u.ſ.w. Ich frei war, nun das vernünftige Ich frei würde? Wäre dieß die Frei¬ heit Meiner? Bin Ich als „vernünftiges Ich“ frei, ſo iſt das Vernünf¬ tige an Mir oder die Vernunft frei, und dieſe Freiheit der Vernunft oder Freiheit des Gedankens war von jeher das Ideal der chriſtlichen Welt. Das Denken — und, wie geſagt, iſt der Glaube auch Denken, wie das Denken Glaube iſt — wollte man frei machen, die Denkenden, d. h. ſowohl die Gläubigen als die Vernünftigen, ſollten frei ſein, für die Uebrigen war Freiheit unmöglich. Die Freiheit der Denken¬ den aber iſt die „Freiheit der Kinder Gottes“ und zugleich die unbarmherzigſte — Hierarchie oder Herrſchaft des Gedankens: denn dem Gedanken erliege Ich. Sind die Gedanken frei, ſo bin Ich ihr Sklave, ſo habe Ich keine Gewalt über ſie und werde von ihnen beherrſcht. Ich aber will den Gedanken ha¬ ben, will voller Gedanken ſein, aber zugleich will Ich gedan¬ kenlos ſein, und bewahre Mir ſtatt der Gedankenfreiheit die Gedankenloſigkeit. Kommt es darauf an, ſich zu verſtändigen und mitzuthei¬ len, ſo kann Ich allerdings nur von den menſchlichen Mit¬ teln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Menſch bin, zu Gebote ſtehen. Und wirklich habe Ich nur als Menſch Gedanken, als Ich bin Ich zugleich gedankenlos.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/470
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/470>, abgerufen am 23.11.2024.