rigkeit der heutigen Zeit ist die Leitung und Beherrschung des Geistes. Ehemals erfüllte die Kirche diese Mission, jetzt ist sie dazu nicht hinreichend. Die Universität ist es, von der dieser große Dienst erwartet werden muß, und sie wird nicht ermangeln, ihn zu leisten. Wir, die Regierung, ha¬ ben die Pflicht, sie darin zu unterstützen. Die Charte will die Freiheit des Gedankens und die des Gewissens." Zu Gunsten also der Gedanken- und Gewissensfreiheit fordert der Minister "die Leitung und Beherrschung des Geistes".
Der Katholicismus zog den Examinanden vor das Forum der Kirchlichkeit, der Protestantismus vor das der biblischen Christlichkeit. Es wäre nur wenig gebessert, wenn man ihn vor das der Vernunft zöge, wie z. B. Ruge will*). Ob die Kirche, die Bibel oder die Vernunft (auf die sich übrigens schon Luther und Huß beriefen) die heilige Autorität ist, macht im Wesentlichen keinen Unterschied.
Lösbar wird die "Frage unserer Zeit" noch nicht einmal dann, wenn man sie so stellt: Ist irgend ein Allgemeines berech¬ tigt oder nur das Einzelne? Ist die Allgemeinheit (wie Staat, Gesetz, Sitte, Sittlichkeit u. s. w.) berechtigt oder die Einzel¬ heit? Lösbar wird sie erst, wenn man überhaupt nicht mehr nach einer "Berechtigung" fragt und keinen bloßen Kampf gegen "Privilegien" führt. -- Eine "vernünftige" Lehrfreiheit, die "nur das Gewissen der Vernunft anerkennt"**), bringt Uns nicht zum Ziele; Wir brauchen vielmehr eine egoisti¬ sche, eine Lehrfreiheit für alle Eigenheit, worin Ich zu einem Vernehmbaren werde und mich ungehemmt kund geben
*) Anecdota 1, 120.
**) Anecdota 1, 127.
rigkeit der heutigen Zeit iſt die Leitung und Beherrſchung des Geiſtes. Ehemals erfüllte die Kirche dieſe Miſſion, jetzt iſt ſie dazu nicht hinreichend. Die Univerſität iſt es, von der dieſer große Dienſt erwartet werden muß, und ſie wird nicht ermangeln, ihn zu leiſten. Wir, die Regierung, ha¬ ben die Pflicht, ſie darin zu unterſtützen. Die Charte will die Freiheit des Gedankens und die des Gewiſſens.“ Zu Gunſten alſo der Gedanken- und Gewiſſensfreiheit fordert der Miniſter „die Leitung und Beherrſchung des Geiſtes“.
Der Katholicismus zog den Examinanden vor das Forum der Kirchlichkeit, der Proteſtantismus vor das der bibliſchen Chriſtlichkeit. Es wäre nur wenig gebeſſert, wenn man ihn vor das der Vernunft zöge, wie z. B. Ruge will*). Ob die Kirche, die Bibel oder die Vernunft (auf die ſich übrigens ſchon Luther und Huß beriefen) die heilige Autorität iſt, macht im Weſentlichen keinen Unterſchied.
Lösbar wird die „Frage unſerer Zeit“ noch nicht einmal dann, wenn man ſie ſo ſtellt: Iſt irgend ein Allgemeines berech¬ tigt oder nur das Einzelne? Iſt die Allgemeinheit (wie Staat, Geſetz, Sitte, Sittlichkeit u. ſ. w.) berechtigt oder die Einzel¬ heit? Lösbar wird ſie erſt, wenn man überhaupt nicht mehr nach einer „Berechtigung“ fragt und keinen bloßen Kampf gegen „Privilegien“ führt. — Eine „vernünftige“ Lehrfreiheit, die „nur das Gewiſſen der Vernunft anerkennt“**), bringt Uns nicht zum Ziele; Wir brauchen vielmehr eine egoiſti¬ ſche, eine Lehrfreiheit für alle Eigenheit, worin Ich zu einem Vernehmbaren werde und mich ungehemmt kund geben
*) Anecdota 1, 120.
**) Anecdota 1, 127.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0469"n="461"/>
rigkeit der heutigen Zeit iſt die <hirendition="#g">Leitung und Beherrſchung<lb/>
des Geiſtes</hi>. Ehemals erfüllte die Kirche dieſe Miſſion,<lb/>
jetzt iſt ſie dazu nicht hinreichend. Die Univerſität iſt es, von<lb/>
der dieſer große Dienſt erwartet werden muß, und ſie wird<lb/>
nicht ermangeln, ihn zu leiſten. Wir, die <hirendition="#g">Regierung</hi>, ha¬<lb/>
ben die Pflicht, ſie darin zu unterſtützen. Die Charte will<lb/>
die Freiheit des Gedankens und die des Gewiſſens.“ Zu<lb/>
Gunſten alſo der Gedanken- und Gewiſſensfreiheit fordert der<lb/>
Miniſter „die Leitung und Beherrſchung des Geiſtes“.</p><lb/><p>Der Katholicismus zog den Examinanden vor das Forum<lb/>
der Kirchlichkeit, der Proteſtantismus vor das der bibliſchen<lb/>
Chriſtlichkeit. Es wäre nur wenig gebeſſert, wenn man ihn<lb/>
vor das der Vernunft zöge, wie z. B. Ruge will<noteplace="foot"n="*)"><lb/>
Anecdota 1, 120.</note>. Ob die<lb/>
Kirche, die Bibel oder die Vernunft (auf die ſich übrigens<lb/>ſchon Luther und Huß beriefen) die <hirendition="#g">heilige Autorität</hi> iſt,<lb/>
macht im Weſentlichen keinen Unterſchied.</p><lb/><p>Lösbar wird die „Frage unſerer Zeit“ noch nicht einmal<lb/>
dann, wenn man ſie ſo ſtellt: Iſt irgend ein Allgemeines berech¬<lb/>
tigt oder nur das Einzelne? Iſt die Allgemeinheit (wie Staat,<lb/>
Geſetz, Sitte, Sittlichkeit u. ſ. w.) berechtigt oder die Einzel¬<lb/>
heit? Lösbar wird ſie erſt, wenn man überhaupt nicht mehr<lb/>
nach einer „Berechtigung“ fragt und keinen bloßen Kampf<lb/>
gegen „Privilegien“ führt. — Eine „vernünftige“ Lehrfreiheit,<lb/>
die „nur das Gewiſſen der Vernunft anerkennt“<noteplace="foot"n="**)"><lb/>
Anecdota 1, 127.</note>, bringt<lb/>
Uns nicht zum Ziele; Wir brauchen vielmehr eine <hirendition="#g">egoiſti¬<lb/>ſche</hi>, eine Lehrfreiheit für alle Eigenheit, worin <hirendition="#g">Ich</hi> zu einem<lb/><hirendition="#g">Vernehmbaren</hi> werde und mich ungehemmt kund geben<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[461/0469]
rigkeit der heutigen Zeit iſt die Leitung und Beherrſchung
des Geiſtes. Ehemals erfüllte die Kirche dieſe Miſſion,
jetzt iſt ſie dazu nicht hinreichend. Die Univerſität iſt es, von
der dieſer große Dienſt erwartet werden muß, und ſie wird
nicht ermangeln, ihn zu leiſten. Wir, die Regierung, ha¬
ben die Pflicht, ſie darin zu unterſtützen. Die Charte will
die Freiheit des Gedankens und die des Gewiſſens.“ Zu
Gunſten alſo der Gedanken- und Gewiſſensfreiheit fordert der
Miniſter „die Leitung und Beherrſchung des Geiſtes“.
Der Katholicismus zog den Examinanden vor das Forum
der Kirchlichkeit, der Proteſtantismus vor das der bibliſchen
Chriſtlichkeit. Es wäre nur wenig gebeſſert, wenn man ihn
vor das der Vernunft zöge, wie z. B. Ruge will *). Ob die
Kirche, die Bibel oder die Vernunft (auf die ſich übrigens
ſchon Luther und Huß beriefen) die heilige Autorität iſt,
macht im Weſentlichen keinen Unterſchied.
Lösbar wird die „Frage unſerer Zeit“ noch nicht einmal
dann, wenn man ſie ſo ſtellt: Iſt irgend ein Allgemeines berech¬
tigt oder nur das Einzelne? Iſt die Allgemeinheit (wie Staat,
Geſetz, Sitte, Sittlichkeit u. ſ. w.) berechtigt oder die Einzel¬
heit? Lösbar wird ſie erſt, wenn man überhaupt nicht mehr
nach einer „Berechtigung“ fragt und keinen bloßen Kampf
gegen „Privilegien“ führt. — Eine „vernünftige“ Lehrfreiheit,
die „nur das Gewiſſen der Vernunft anerkennt“ **), bringt
Uns nicht zum Ziele; Wir brauchen vielmehr eine egoiſti¬
ſche, eine Lehrfreiheit für alle Eigenheit, worin Ich zu einem
Vernehmbaren werde und mich ungehemmt kund geben
*)
Anecdota 1, 120.
**)
Anecdota 1, 127.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/469>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.