keine Gläubigen mehr. Es ist dem Denkenden sein Denken eine "erhabene Arbeit, eine heilige Thätigkeit", und es ruht auf einem festen Glauben, dem Glauben an die Wahrheit, Zuerst ist das Beten eine heilige Thätigkeit, dann geht diese heilige "Andacht" in ein vernünftiges und raisonnirendes "Denken" über, das aber gleichfalls an der "heiligen Wahr¬ heit" seine unverrückbare Glaubensbasis behält, und nur eine wundervolle Maschine ist, welche der Geist der Wahrheit zu seinem Dienste aufzieht. Das freie Denken und die freie Wissenschaft beschäftigt Mich -- denn nicht Ich bin frei, nicht Ich beschäftige Mich, sondern das Denken ist frei und beschäftigt Mich -- mit dem Himmel und dem Himmlischen oder "Göttlichen", das heißt eigentlich, mit der Welt und dem Weltlichen, nur eben mit einer "andern" Welt; es ist nur die Umkehrung und Verrückung der Welt, eine Beschäftigung mit dem Wesen der Welt, daher eine Verrücktheit. Der Denkende ist blind gegen die Unmittelbarkeit der Dinge und sie zu bemeistern unfähig: er ißt nicht, trinkt nicht, genießt nicht, denn der Essende und Trinkende ist niemals der Den¬ kende, ja dieser vergißt Essen und Trinken, sein Fortkommen im Leben, die Nahrungssorgen u. s. w. über das Denken; er vergißt es, wie der Betende es auch vergißt. Darum erscheint er auch dem kräftigen Natursohne als ein närrischer Kauz, ein Narr, wenngleich er ihn für heilig ansieht, wie den Alten die Rasenden so erschienen. Das freie Denken ist Raserei, weil reine Bewegung der Innerlichkeit, der bloß in¬ nerliche Mensch, welcher den übrigen Menschen leitet und regelt. Der Schamane und der speculative Philosoph bezeich¬ nen die unterste und oberste Sprosse an der Stufenleiter des innerlichen Menschen, des -- Mongolen, Schamane und
keine Gläubigen mehr. Es iſt dem Denkenden ſein Denken eine „erhabene Arbeit, eine heilige Thätigkeit“, und es ruht auf einem feſten Glauben, dem Glauben an die Wahrheit, Zuerſt iſt das Beten eine heilige Thätigkeit, dann geht dieſe heilige „Andacht“ in ein vernünftiges und raiſonnirendes „Denken“ über, das aber gleichfalls an der „heiligen Wahr¬ heit“ ſeine unverrückbare Glaubensbaſis behält, und nur eine wundervolle Maſchine iſt, welche der Geiſt der Wahrheit zu ſeinem Dienſte aufzieht. Das freie Denken und die freie Wiſſenſchaft beſchäftigt Mich — denn nicht Ich bin frei, nicht Ich beſchäftige Mich, ſondern das Denken iſt frei und beſchäftigt Mich — mit dem Himmel und dem Himmliſchen oder „Göttlichen“, das heißt eigentlich, mit der Welt und dem Weltlichen, nur eben mit einer „andern“ Welt; es iſt nur die Umkehrung und Verrückung der Welt, eine Beſchäftigung mit dem Weſen der Welt, daher eine Verrücktheit. Der Denkende iſt blind gegen die Unmittelbarkeit der Dinge und ſie zu bemeiſtern unfähig: er ißt nicht, trinkt nicht, genießt nicht, denn der Eſſende und Trinkende iſt niemals der Den¬ kende, ja dieſer vergißt Eſſen und Trinken, ſein Fortkommen im Leben, die Nahrungsſorgen u. ſ. w. über das Denken; er vergißt es, wie der Betende es auch vergißt. Darum erſcheint er auch dem kräftigen Naturſohne als ein närriſcher Kauz, ein Narr, wenngleich er ihn für heilig anſieht, wie den Alten die Raſenden ſo erſchienen. Das freie Denken iſt Raſerei, weil reine Bewegung der Innerlichkeit, der bloß in¬ nerliche Menſch, welcher den übrigen Menſchen leitet und regelt. Der Schamane und der ſpeculative Philoſoph bezeich¬ nen die unterſte und oberſte Sproſſe an der Stufenleiter des innerlichen Menſchen, des — Mongolen, Schamane und
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keine Gläubigen mehr. Es iſt dem Denkenden ſein Denken
eine „erhabene Arbeit, eine heilige Thätigkeit“, und es ruht
auf einem feſten Glauben, dem Glauben an die Wahrheit,
Zuerſt iſt das Beten eine heilige Thätigkeit, dann geht dieſe
heilige „Andacht“ in ein vernünftiges und raiſonnirendes
„Denken“ über, das aber gleichfalls an der „heiligen Wahr¬
heit“ ſeine unverrückbare Glaubensbaſis behält, und nur eine
wundervolle Maſchine iſt, welche der Geiſt der Wahrheit zu
ſeinem Dienſte aufzieht. Das freie Denken und die freie
Wiſſenſchaft beſchäftigt Mich — denn nicht Ich bin frei,
nicht Ich beſchäftige Mich, ſondern das Denken iſt frei und
beſchäftigt Mich — mit dem Himmel und dem Himmliſchen
oder „Göttlichen“, das heißt eigentlich, mit der Welt und dem
Weltlichen, nur eben mit einer „andern“ Welt; es iſt nur die
Umkehrung und Verrückung der Welt, eine Beſchäftigung mit
dem Weſen der Welt, daher eine Verrücktheit. Der
Denkende iſt blind gegen die Unmittelbarkeit der Dinge und
ſie zu bemeiſtern unfähig: er ißt nicht, trinkt nicht, genießt
nicht, denn der Eſſende und Trinkende iſt niemals der Den¬
kende, ja dieſer vergißt Eſſen und Trinken, ſein Fortkommen
im Leben, die Nahrungsſorgen u. ſ. w. über das Denken; er
vergißt es, wie der Betende es auch vergißt. Darum erſcheint
er auch dem kräftigen Naturſohne als ein närriſcher Kauz,
ein Narr, wenngleich er ihn für heilig anſieht, wie den Alten
die Raſenden ſo erſchienen. Das freie Denken iſt Raſerei,
weil reine Bewegung der Innerlichkeit, der bloß in¬
nerliche Menſch, welcher den übrigen Menſchen leitet und
regelt. Der Schamane und der ſpeculative Philoſoph bezeich¬
nen die unterſte und oberſte Sproſſe an der Stufenleiter des
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/461>, abgerufen am 23.11.2024.
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