Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

man ein, aber gleichwohl behielt man immer wieder eine für
sich gültige Wichtigkeit des Gegenstandes, einen absoluten
Werth desselben vor Augen, als wenn nicht die Puppe dem
Kinde, der Koran dem Türken das Wichtigste wäre. So lange
Ich Mir nicht das einzig Wichtige bin, ist's gleichgültig, von
welchem Gegenstande Ich "viel Wesens" mache, und nur mein
größeres oder kleineres Verbrechen gegen ihn ist von Werth.
Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergebenheit bezeichnet
den Standpunkt meiner Dienstbarkeit, der Grad meiner Ver¬
sündigung zeigt das Maaß meiner Eigenheit.

Endlich aber muß man überhaupt sich Alles "aus dem
Sinn zu schlagen" wissen, schon um -- einschlafen zu können.
Es darf Uns nichts beschäftigen, womit Wir Uns nicht be¬
schäftigen: der Ehrsüchtige kann seinen ehrgeizigen Plänen nicht
entrinnen, der Gottesfürchtige nicht dem Gedanken an Gott;
Vernarrtheit und Besessenheit fallen in Eins zusammen.

Sein Wesen realisiren oder seinem Begriffe gemäß leben
zu wollen, was bei den Gottgläubigen so viel als "fromm"
sein bedeutet, bei den Menschheitsgläubigen "menschlich" leben
heißt, kann nur der sinnliche und sündige Mensch sich vorsetzen,
der Mensch, so lange er zwischen Sinnenglück und Seelen¬
frieden die bange Wahl hat, der Mensch, so lange er ein
"armer Sünder" ist. Der Christ ist nichts anderes, als ein
sinnlicher Mensch, der, indem er vom Heiligen weiß und sich
bewußt ist, daß er dasselbe verletzt, in sich einen armen Sün¬
der sieht: Sinnlichkeit, als "Sündlichkeit" gewußt, das ist
christliches Bewußtsein, das ist der Christ selber. Und wenn
nun "Sünde" und "Sündlichkeit" von Neueren nicht mehr in
den Mund genommen wird, statt dessen aber "Egoismus",
"Selbstsucht", "Eigennützigkeit" u. dergl. ihnen zu schaffen

man ein, aber gleichwohl behielt man immer wieder eine für
ſich gültige Wichtigkeit des Gegenſtandes, einen abſoluten
Werth deſſelben vor Augen, als wenn nicht die Puppe dem
Kinde, der Koran dem Türken das Wichtigſte wäre. So lange
Ich Mir nicht das einzig Wichtige bin, iſt's gleichgültig, von
welchem Gegenſtande Ich „viel Weſens“ mache, und nur mein
größeres oder kleineres Verbrechen gegen ihn iſt von Werth.
Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergebenheit bezeichnet
den Standpunkt meiner Dienſtbarkeit, der Grad meiner Ver¬
ſündigung zeigt das Maaß meiner Eigenheit.

Endlich aber muß man überhaupt ſich Alles „aus dem
Sinn zu ſchlagen“ wiſſen, ſchon um — einſchlafen zu können.
Es darf Uns nichts beſchäftigen, womit Wir Uns nicht be¬
ſchäftigen: der Ehrſüchtige kann ſeinen ehrgeizigen Plänen nicht
entrinnen, der Gottesfürchtige nicht dem Gedanken an Gott;
Vernarrtheit und Beſeſſenheit fallen in Eins zuſammen.

Sein Weſen realiſiren oder ſeinem Begriffe gemäß leben
zu wollen, was bei den Gottgläubigen ſo viel als „fromm“
ſein bedeutet, bei den Menſchheitsgläubigen „menſchlich“ leben
heißt, kann nur der ſinnliche und ſündige Menſch ſich vorſetzen,
der Menſch, ſo lange er zwiſchen Sinnenglück und Seelen¬
frieden die bange Wahl hat, der Menſch, ſo lange er ein
„armer Sünder“ iſt. Der Chriſt iſt nichts anderes, als ein
ſinnlicher Menſch, der, indem er vom Heiligen weiß und ſich
bewußt iſt, daß er daſſelbe verletzt, in ſich einen armen Sün¬
der ſieht: Sinnlichkeit, als „Sündlichkeit“ gewußt, das iſt
chriſtliches Bewußtſein, das iſt der Chriſt ſelber. Und wenn
nun „Sünde“ und „Sündlichkeit“ von Neueren nicht mehr in
den Mund genommen wird, ſtatt deſſen aber „Egoismus“,
„Selbſtſucht“, „Eigennützigkeit“ u. dergl. ihnen zu ſchaffen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0455" n="447"/>
man ein, aber gleichwohl behielt man immer wieder eine für<lb/>
&#x017F;ich gültige Wichtigkeit des Gegen&#x017F;tandes, einen ab&#x017F;oluten<lb/>
Werth de&#x017F;&#x017F;elben vor Augen, als wenn nicht die Puppe dem<lb/>
Kinde, der Koran dem Türken das Wichtig&#x017F;te wäre. So lange<lb/>
Ich Mir nicht das einzig Wichtige bin, i&#x017F;t's gleichgültig, von<lb/>
welchem Gegen&#x017F;tande Ich &#x201E;viel We&#x017F;ens&#x201C; mache, und nur mein<lb/>
größeres oder kleineres <hi rendition="#g">Verbrechen</hi> gegen ihn i&#x017F;t von Werth.<lb/>
Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergebenheit bezeichnet<lb/>
den Standpunkt meiner Dien&#x017F;tbarkeit, der Grad meiner Ver¬<lb/>
&#x017F;ündigung zeigt das Maaß meiner Eigenheit.</p><lb/>
            <p>Endlich aber muß man überhaupt &#x017F;ich Alles &#x201E;aus dem<lb/>
Sinn zu &#x017F;chlagen&#x201C; wi&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;chon um &#x2014; ein&#x017F;chlafen zu können.<lb/>
Es darf Uns nichts be&#x017F;chäftigen, womit Wir Uns nicht be¬<lb/>
&#x017F;chäftigen: der Ehr&#x017F;üchtige kann &#x017F;einen ehrgeizigen Plänen nicht<lb/>
entrinnen, der Gottesfürchtige nicht dem Gedanken an Gott;<lb/>
Vernarrtheit und Be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;enheit fallen in Eins zu&#x017F;ammen.</p><lb/>
            <p>Sein We&#x017F;en reali&#x017F;iren oder &#x017F;einem Begriffe gemäß leben<lb/>
zu wollen, was bei den Gottgläubigen &#x017F;o viel als &#x201E;fromm&#x201C;<lb/>
&#x017F;ein bedeutet, bei den Men&#x017F;chheitsgläubigen &#x201E;men&#x017F;chlich&#x201C; leben<lb/>
heißt, kann nur der &#x017F;innliche und &#x017F;ündige Men&#x017F;ch &#x017F;ich vor&#x017F;etzen,<lb/>
der Men&#x017F;ch, &#x017F;o lange er zwi&#x017F;chen Sinnenglück und Seelen¬<lb/>
frieden die bange Wahl hat, der Men&#x017F;ch, &#x017F;o lange er ein<lb/>
&#x201E;armer Sünder&#x201C; i&#x017F;t. Der Chri&#x017F;t i&#x017F;t nichts anderes, als ein<lb/>
&#x017F;innlicher Men&#x017F;ch, der, indem er vom Heiligen weiß und &#x017F;ich<lb/>
bewußt i&#x017F;t, daß er da&#x017F;&#x017F;elbe verletzt, in &#x017F;ich einen armen Sün¬<lb/>
der &#x017F;ieht: Sinnlichkeit, als &#x201E;Sündlichkeit&#x201C; gewußt, das i&#x017F;t<lb/>
chri&#x017F;tliches Bewußt&#x017F;ein, das i&#x017F;t der Chri&#x017F;t &#x017F;elber. Und wenn<lb/>
nun &#x201E;Sünde&#x201C; und &#x201E;Sündlichkeit&#x201C; von Neueren nicht mehr in<lb/>
den Mund genommen wird, &#x017F;tatt de&#x017F;&#x017F;en aber &#x201E;Egoismus&#x201C;,<lb/>
&#x201E;Selb&#x017F;t&#x017F;ucht&#x201C;, &#x201E;Eigennützigkeit&#x201C; u. dergl. ihnen zu &#x017F;chaffen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[447/0455] man ein, aber gleichwohl behielt man immer wieder eine für ſich gültige Wichtigkeit des Gegenſtandes, einen abſoluten Werth deſſelben vor Augen, als wenn nicht die Puppe dem Kinde, der Koran dem Türken das Wichtigſte wäre. So lange Ich Mir nicht das einzig Wichtige bin, iſt's gleichgültig, von welchem Gegenſtande Ich „viel Weſens“ mache, und nur mein größeres oder kleineres Verbrechen gegen ihn iſt von Werth. Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergebenheit bezeichnet den Standpunkt meiner Dienſtbarkeit, der Grad meiner Ver¬ ſündigung zeigt das Maaß meiner Eigenheit. Endlich aber muß man überhaupt ſich Alles „aus dem Sinn zu ſchlagen“ wiſſen, ſchon um — einſchlafen zu können. Es darf Uns nichts beſchäftigen, womit Wir Uns nicht be¬ ſchäftigen: der Ehrſüchtige kann ſeinen ehrgeizigen Plänen nicht entrinnen, der Gottesfürchtige nicht dem Gedanken an Gott; Vernarrtheit und Beſeſſenheit fallen in Eins zuſammen. Sein Weſen realiſiren oder ſeinem Begriffe gemäß leben zu wollen, was bei den Gottgläubigen ſo viel als „fromm“ ſein bedeutet, bei den Menſchheitsgläubigen „menſchlich“ leben heißt, kann nur der ſinnliche und ſündige Menſch ſich vorſetzen, der Menſch, ſo lange er zwiſchen Sinnenglück und Seelen¬ frieden die bange Wahl hat, der Menſch, ſo lange er ein „armer Sünder“ iſt. Der Chriſt iſt nichts anderes, als ein ſinnlicher Menſch, der, indem er vom Heiligen weiß und ſich bewußt iſt, daß er daſſelbe verletzt, in ſich einen armen Sün¬ der ſieht: Sinnlichkeit, als „Sündlichkeit“ gewußt, das iſt chriſtliches Bewußtſein, das iſt der Chriſt ſelber. Und wenn nun „Sünde“ und „Sündlichkeit“ von Neueren nicht mehr in den Mund genommen wird, ſtatt deſſen aber „Egoismus“, „Selbſtſucht“, „Eigennützigkeit“ u. dergl. ihnen zu ſchaffen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/455
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/455>, abgerufen am 23.11.2024.