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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Menschen zu nehmen wie sie sind, und nimmt sie lieber wie
sie sein sollen, hetzt deshalb Jeden hinter seinem seinsollenden
Ich her und "strebt Alle zu gleich berechtigten, gleich achtbaren,
gleich sittlichen oder vernünftigen Menschen zu machen". *)

Ja, "wenn die Menschen wären, wie sie sein sollten,
sein könnten, wenn alle Menschen vernünftig wären, alle ein¬
ander als Brüder liebten", dann wär's ein paradiesisches Le¬
ben. **)-- Wohlan, die Menschen sind, wie sie sein sollen,
sein können. Was sollen sie sein? Doch wohl nicht mehr
als sie sein können! Und was können sie sein? Auch eben
nicht mehr als sie -- können, d. h. als sie das Vermögen,
die Kraft zu sein haben. Das aber sind sie wirklich, weil,
was sie nicht sind, sie zu sein nicht im Stande sind: denn
im Stande sein heißt -- wirklich sein. Man ist nichts im
Stande, was man nicht wirklich ist, man ist nichts im Stande
zu thun, was man nicht wirklich thut. Könnte ein am Staar
Erblindeter sehen? O ja, wenn er sich den Staar glücklich
stechen ließe. Allein jetzt kann er nicht sehen, weil er nicht
siebt. Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zusammen.
Man kann nichts, was man nicht thut, wie man nichts thut,
was man nicht kann.

Die Sonderbarkeit dieser Behauptung verschwindet, wenn
man erwägt, daß die Worte "es ist möglich, daß u. s. w."
fast nie einen andern Sinn in sich bergen, als diesen: "Ich
kann Mir denken, daß u. s. w." z. B. Es ist möglich, daß
alle Menschen vernünftig leben, d. h. Ich kann Mir denken,
daß alle u. s. w. Da nun mein Denken nicht bewirken kann,

*) Der Communismus in der Schweiz. S. 24.
**) Ebend. S. 63.

Menſchen zu nehmen wie ſie ſind, und nimmt ſie lieber wie
ſie ſein ſollen, hetzt deshalb Jeden hinter ſeinem ſeinſollenden
Ich her und „ſtrebt Alle zu gleich berechtigten, gleich achtbaren,
gleich ſittlichen oder vernünftigen Menſchen zu machen“. *)

Ja, „wenn die Menſchen wären, wie ſie ſein ſollten,
ſein könnten, wenn alle Menſchen vernünftig wären, alle ein¬
ander als Brüder liebten“, dann wär's ein paradieſiſches Le¬
ben. **)— Wohlan, die Menſchen ſind, wie ſie ſein ſollen,
ſein können. Was ſollen ſie ſein? Doch wohl nicht mehr
als ſie ſein können! Und was können ſie ſein? Auch eben
nicht mehr als ſie — können, d. h. als ſie das Vermögen,
die Kraft zu ſein haben. Das aber ſind ſie wirklich, weil,
was ſie nicht ſind, ſie zu ſein nicht im Stande ſind: denn
im Stande ſein heißt — wirklich ſein. Man iſt nichts im
Stande, was man nicht wirklich iſt, man iſt nichts im Stande
zu thun, was man nicht wirklich thut. Könnte ein am Staar
Erblindeter ſehen? O ja, wenn er ſich den Staar glücklich
ſtechen ließe. Allein jetzt kann er nicht ſehen, weil er nicht
ſiebt. Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zuſammen.
Man kann nichts, was man nicht thut, wie man nichts thut,
was man nicht kann.

Die Sonderbarkeit dieſer Behauptung verſchwindet, wenn
man erwägt, daß die Worte „es iſt möglich, daß u. ſ. w.“
faſt nie einen andern Sinn in ſich bergen, als dieſen: „Ich
kann Mir denken, daß u. ſ. w.“ z. B. Es iſt möglich, daß
alle Menſchen vernünftig leben, d. h. Ich kann Mir denken,
daß alle u. ſ. w. Da nun mein Denken nicht bewirken kann,

*) Der Communismus in der Schweiz. S. 24.
**) Ebend. S. 63.
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[439/0447] Menſchen zu nehmen wie ſie ſind, und nimmt ſie lieber wie ſie ſein ſollen, hetzt deshalb Jeden hinter ſeinem ſeinſollenden Ich her und „ſtrebt Alle zu gleich berechtigten, gleich achtbaren, gleich ſittlichen oder vernünftigen Menſchen zu machen“. *) Ja, „wenn die Menſchen wären, wie ſie ſein ſollten, ſein könnten, wenn alle Menſchen vernünftig wären, alle ein¬ ander als Brüder liebten“, dann wär's ein paradieſiſches Le¬ ben. **)— Wohlan, die Menſchen ſind, wie ſie ſein ſollen, ſein können. Was ſollen ſie ſein? Doch wohl nicht mehr als ſie ſein können! Und was können ſie ſein? Auch eben nicht mehr als ſie — können, d. h. als ſie das Vermögen, die Kraft zu ſein haben. Das aber ſind ſie wirklich, weil, was ſie nicht ſind, ſie zu ſein nicht im Stande ſind: denn im Stande ſein heißt — wirklich ſein. Man iſt nichts im Stande, was man nicht wirklich iſt, man iſt nichts im Stande zu thun, was man nicht wirklich thut. Könnte ein am Staar Erblindeter ſehen? O ja, wenn er ſich den Staar glücklich ſtechen ließe. Allein jetzt kann er nicht ſehen, weil er nicht ſiebt. Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zuſammen. Man kann nichts, was man nicht thut, wie man nichts thut, was man nicht kann. Die Sonderbarkeit dieſer Behauptung verſchwindet, wenn man erwägt, daß die Worte „es iſt möglich, daß u. ſ. w.“ faſt nie einen andern Sinn in ſich bergen, als dieſen: „Ich kann Mir denken, daß u. ſ. w.“ z. B. Es iſt möglich, daß alle Menſchen vernünftig leben, d. h. Ich kann Mir denken, daß alle u. ſ. w. Da nun mein Denken nicht bewirken kann, *) Der Communismus in der Schweiz. S. 24. **) Ebend. S. 63.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/447>, abgerufen am 27.11.2024.