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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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zudrücken vermag. Ist etwa, um sogleich den liberalen Be¬
griff desselben vorzuführen, das "menschliche" und "wahrhaft
menschliche" nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder
schon von Haus aus dieß wahrhaft menschliche Leben, oder
muß er mit saurer Mühe sich erst dazu erheben? Hat er es
schon als sein gegenwärtiges, oder muß er's als sein zukünfti¬
ges Leben erringen, das ihm erst dann zu Theil wird, wenn
er "von keinem Egoismus mehr befleckt ist"? Das Leben ist
bei dieser Ansicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und
man lebt nur, um das Wesen des Menschen in sich lebendig
zu machen, man lebt um dieses Wesens willen. Man hat
sein Leben nur, um sich mittelst desselben das "wahre", von
allem Egoismus gereinigte Leben zu verschaffen. Daher fürch¬
tet man sich, von seinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu
machen: es soll nur zum "rechten Gebrauche" dienen.

Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe,
hat durch sein Leben Etwas zu verwirklichen und herzustellen,
ein Etwas, für welches unser Leben nur Mittel und Werk¬
zeug ist, ein Etwas, das mehr werth ist, als dieses Leben,
ein Etwas, dem man das Leben schuldig ist. Man hat
einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die
Rohheit des Menschenopfers hat sich mit der Zeit verloren;
das Menschenopfer selbst ist unverkürzt geblieben, und stündlich
fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir "ar¬
men Sünder" schlachten Uns sebst zum Opfer für "das
menschliche Wesen", die "Idee der Menschheit", die "Mensch¬
lichkeit" und wie die Götzen oder Götter sonst noch heißen.

Weil Wir aber unser Leben jenem Etwas schulden, darum
haben Wir -- dieß das Nächste -- kein Recht es uns zu
nehmen.

zudrücken vermag. Iſt etwa, um ſogleich den liberalen Be¬
griff deſſelben vorzuführen, das „menſchliche“ und „wahrhaft
menſchliche“ nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder
ſchon von Haus aus dieß wahrhaft menſchliche Leben, oder
muß er mit ſaurer Mühe ſich erſt dazu erheben? Hat er es
ſchon als ſein gegenwärtiges, oder muß er's als ſein zukünfti¬
ges Leben erringen, das ihm erſt dann zu Theil wird, wenn
er „von keinem Egoismus mehr befleckt iſt“? Das Leben iſt
bei dieſer Anſicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und
man lebt nur, um das Weſen des Menſchen in ſich lebendig
zu machen, man lebt um dieſes Weſens willen. Man hat
ſein Leben nur, um ſich mittelſt deſſelben das „wahre“, von
allem Egoismus gereinigte Leben zu verſchaffen. Daher fürch¬
tet man ſich, von ſeinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu
machen: es ſoll nur zum „rechten Gebrauche“ dienen.

Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe,
hat durch ſein Leben Etwas zu verwirklichen und herzuſtellen,
ein Etwas, für welches unſer Leben nur Mittel und Werk¬
zeug iſt, ein Etwas, das mehr werth iſt, als dieſes Leben,
ein Etwas, dem man das Leben ſchuldig iſt. Man hat
einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die
Rohheit des Menſchenopfers hat ſich mit der Zeit verloren;
das Menſchenopfer ſelbſt iſt unverkürzt geblieben, und ſtündlich
fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir „ar¬
men Sünder“ ſchlachten Uns ſebſt zum Opfer für „das
menſchliche Weſen“, die „Idee der Menſchheit“, die „Menſch¬
lichkeit“ und wie die Götzen oder Götter ſonſt noch heißen.

Weil Wir aber unſer Leben jenem Etwas ſchulden, darum
haben Wir — dieß das Nächſte — kein Recht es uns zu
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[430/0438] zudrücken vermag. Iſt etwa, um ſogleich den liberalen Be¬ griff deſſelben vorzuführen, das „menſchliche“ und „wahrhaft menſchliche“ nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder ſchon von Haus aus dieß wahrhaft menſchliche Leben, oder muß er mit ſaurer Mühe ſich erſt dazu erheben? Hat er es ſchon als ſein gegenwärtiges, oder muß er's als ſein zukünfti¬ ges Leben erringen, das ihm erſt dann zu Theil wird, wenn er „von keinem Egoismus mehr befleckt iſt“? Das Leben iſt bei dieſer Anſicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und man lebt nur, um das Weſen des Menſchen in ſich lebendig zu machen, man lebt um dieſes Weſens willen. Man hat ſein Leben nur, um ſich mittelſt deſſelben das „wahre“, von allem Egoismus gereinigte Leben zu verſchaffen. Daher fürch¬ tet man ſich, von ſeinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu machen: es ſoll nur zum „rechten Gebrauche“ dienen. Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe, hat durch ſein Leben Etwas zu verwirklichen und herzuſtellen, ein Etwas, für welches unſer Leben nur Mittel und Werk¬ zeug iſt, ein Etwas, das mehr werth iſt, als dieſes Leben, ein Etwas, dem man das Leben ſchuldig iſt. Man hat einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die Rohheit des Menſchenopfers hat ſich mit der Zeit verloren; das Menſchenopfer ſelbſt iſt unverkürzt geblieben, und ſtündlich fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir „ar¬ men Sünder“ ſchlachten Uns ſebſt zum Opfer für „das menſchliche Weſen“, die „Idee der Menſchheit“, die „Menſch¬ lichkeit“ und wie die Götzen oder Götter ſonſt noch heißen. Weil Wir aber unſer Leben jenem Etwas ſchulden, darum haben Wir — dieß das Nächſte — kein Recht es uns zu nehmen.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/438>, abgerufen am 23.11.2024.