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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Wie rühmt man nicht Sokrates über seine Gewissenhaf¬
tigkeit, die ihn dem Rache, aus dem Kerker zu entweichen,
widerstehen läßt. Er ist ein Thor, daß er den Athenern ein
Recht einräumt, ihn zu verurtheilen. Darum geschieht ihm
allerdings Recht; warum bleibt er auch mit den Athenern auf
gleichem Boden stehen! Warum bricht er nicht mit ihnen?
Hätte er gewußt und wissen können, was er war, er hätte
solchen Richtern keinen Anspruch, kein Recht eingeräumt. Daß
er nicht entfloh, war eben seine Schwachheit, sein Wahn,
mit den Athenern noch Gemeinsames zu haben, oder die Mei¬
nung, er sei ein Glied, ein bloßes Glied dieses Volkes. Er
war aber vielmehr dieses Volk selbst in Person und konnte
nur sein eigener Richter sein. Es gab keinen Richter über
ihm
; wie er selbst denn wirklich einen offenen Richterspruch
über sich gefällt und sich des Prytaneums werth erachtet hatte.
Dabei mußte er bleiben, und wie er kein Todesurtheil gegen
sich ausgesprochen hatte, so auch das der Athener verachten
und entfliehen. Aber er ordnete sich unter und erkannte in
dem Volke seinen Richter, dünkte sich klein vor der Majestät
des Volkes. Daß er sich der Gewalt, welcher er allein
unterliegen konnte, als einem "Rechte" unterwarf, war Ver¬
rath an ihm selbst: es war Tugend. Christus, welcher sich
angeblich der Macht über seine himmlischen Legionen enthielt,
wird dadurch von den Erzählern die gleiche Bedenklichkeit zu¬
geschrieben. Luther that sehr wohl und klug, sich die Sicher¬
heit seines Wormser Zuges verbriefen zu lassen, und Sokrates
hätte wissen sollen, daß die Athener seine Feinde seien, er
allein sein Richter. Die Selbsttäuschung von einem "Rechts¬
zustande, Gesetze" u. s. w. mußte der Einsicht weichen, daß das
Verhältniß ein Verhältniß der Gewalt sei.

Wie rühmt man nicht Sokrates über ſeine Gewiſſenhaf¬
tigkeit, die ihn dem Rache, aus dem Kerker zu entweichen,
widerſtehen läßt. Er iſt ein Thor, daß er den Athenern ein
Recht einräumt, ihn zu verurtheilen. Darum geſchieht ihm
allerdings Recht; warum bleibt er auch mit den Athenern auf
gleichem Boden ſtehen! Warum bricht er nicht mit ihnen?
Hätte er gewußt und wiſſen können, was er war, er hätte
ſolchen Richtern keinen Anſpruch, kein Recht eingeräumt. Daß
er nicht entfloh, war eben ſeine Schwachheit, ſein Wahn,
mit den Athenern noch Gemeinſames zu haben, oder die Mei¬
nung, er ſei ein Glied, ein bloßes Glied dieſes Volkes. Er
war aber vielmehr dieſes Volk ſelbſt in Perſon und konnte
nur ſein eigener Richter ſein. Es gab keinen Richter über
ihm
; wie er ſelbſt denn wirklich einen offenen Richterſpruch
über ſich gefällt und ſich des Prytaneums werth erachtet hatte.
Dabei mußte er bleiben, und wie er kein Todesurtheil gegen
ſich ausgeſprochen hatte, ſo auch das der Athener verachten
und entfliehen. Aber er ordnete ſich unter und erkannte in
dem Volke ſeinen Richter, dünkte ſich klein vor der Majeſtät
des Volkes. Daß er ſich der Gewalt, welcher er allein
unterliegen konnte, als einem „Rechte“ unterwarf, war Ver¬
rath an ihm ſelbſt: es war Tugend. Chriſtus, welcher ſich
angeblich der Macht über ſeine himmliſchen Legionen enthielt,
wird dadurch von den Erzählern die gleiche Bedenklichkeit zu¬
geſchrieben. Luther that ſehr wohl und klug, ſich die Sicher¬
heit ſeines Wormſer Zuges verbriefen zu laſſen, und Sokrates
hätte wiſſen ſollen, daß die Athener ſeine Feinde ſeien, er
allein ſein Richter. Die Selbſttäuſchung von einem „Rechts¬
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Verhältniß ein Verhältniß der Gewalt ſei.

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[282/0290] Wie rühmt man nicht Sokrates über ſeine Gewiſſenhaf¬ tigkeit, die ihn dem Rache, aus dem Kerker zu entweichen, widerſtehen läßt. Er iſt ein Thor, daß er den Athenern ein Recht einräumt, ihn zu verurtheilen. Darum geſchieht ihm allerdings Recht; warum bleibt er auch mit den Athenern auf gleichem Boden ſtehen! Warum bricht er nicht mit ihnen? Hätte er gewußt und wiſſen können, was er war, er hätte ſolchen Richtern keinen Anſpruch, kein Recht eingeräumt. Daß er nicht entfloh, war eben ſeine Schwachheit, ſein Wahn, mit den Athenern noch Gemeinſames zu haben, oder die Mei¬ nung, er ſei ein Glied, ein bloßes Glied dieſes Volkes. Er war aber vielmehr dieſes Volk ſelbſt in Perſon und konnte nur ſein eigener Richter ſein. Es gab keinen Richter über ihm; wie er ſelbſt denn wirklich einen offenen Richterſpruch über ſich gefällt und ſich des Prytaneums werth erachtet hatte. Dabei mußte er bleiben, und wie er kein Todesurtheil gegen ſich ausgeſprochen hatte, ſo auch das der Athener verachten und entfliehen. Aber er ordnete ſich unter und erkannte in dem Volke ſeinen Richter, dünkte ſich klein vor der Majeſtät des Volkes. Daß er ſich der Gewalt, welcher er allein unterliegen konnte, als einem „Rechte“ unterwarf, war Ver¬ rath an ihm ſelbſt: es war Tugend. Chriſtus, welcher ſich angeblich der Macht über ſeine himmliſchen Legionen enthielt, wird dadurch von den Erzählern die gleiche Bedenklichkeit zu¬ geſchrieben. Luther that ſehr wohl und klug, ſich die Sicher¬ heit ſeines Wormſer Zuges verbriefen zu laſſen, und Sokrates hätte wiſſen ſollen, daß die Athener ſeine Feinde ſeien, er allein ſein Richter. Die Selbſttäuſchung von einem „Rechts¬ zuſtande, Geſetze“ u. ſ. w. mußte der Einſicht weichen, daß das Verhältniß ein Verhältniß der Gewalt ſei.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/290>, abgerufen am 23.11.2024.