wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich seid, und laßt eure heuchlerischen Bestrebungen fahren, eure thörichte Sucht, etwas Anderes zu sein, als Ihr seid. Heuchlerisch nenne Ich jene, weil Ihr doch alle diese Jahrtausende Egoisten geblieben seid, aber schlafende, sich selbst betrügende, verrückte Egoisten, Ihr Heautontimorumenen, Ihr Selbstpeiniger. Noch niemals hat eine Religion der Versprechungen und "Verheißungen" ent¬ rathen können, mögen sie auf's Jenseits oder Diesseits ver¬ weisen ("langes Leben" u. s. w.); denn lohnsüchtig ist der Mensch, und "umsonst" thut er nichts. Aber jenes "das Gute um des Guten willen thun" ohne Aussicht auf Beloh¬ nung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es gewähren soll, der Lohn enthalten wäre. Also auch die Re¬ ligion ist auf unsern Egoismus begründet, und sie -- beutet ihn aus; berechnet aus unsere Begierden, erstickt sie viele andere um Einer willen. Dieß giebt denn die Erscheinung des betrogenen Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige, sondern eine meiner Begierden, z. B. den Glückseligkeitstrieb. Die Religion verspricht Mir das -- "höchste Gut"; dieß zu gewinnen achte Ich auf keine andere meiner Begierden mehr und sättige sie nicht. -- All euer Thun und Treiben ist un¬ eingestandener, heimlicher, verdeckter und versteckter Egois¬ mus. Aber weil Egoismus, den Ihr Euch nicht gestehen wollt, den Ihr Euch selbst verheimlicht, also nicht offenbarer und offenkundiger, mithin unbewußter Egoismus, darum ist er nicht Egoismus, sondern Knechtschaft, Dienst, Selbstver¬ leugnung. Ihr seid Egoisten und Ihr seid es nicht, indem Ihr den Egoismus verleugnet. Wo Ihr's am meisten zu sein scheint, da habt Ihr dem Worte "Egoist" -- Abscheu und Verachtung zugezogen.
wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich ſeid, und laßt eure heuchleriſchen Beſtrebungen fahren, eure thörichte Sucht, etwas Anderes zu ſein, als Ihr ſeid. Heuchleriſch nenne Ich jene, weil Ihr doch alle dieſe Jahrtauſende Egoiſten geblieben ſeid, aber ſchlafende, ſich ſelbſt betrügende, verrückte Egoiſten, Ihr Heautontimorumenen, Ihr Selbſtpeiniger. Noch niemals hat eine Religion der Verſprechungen und „Verheißungen“ ent¬ rathen können, mögen ſie auf's Jenſeits oder Dieſſeits ver¬ weiſen („langes Leben“ u. ſ. w.); denn lohnſüchtig iſt der Menſch, und „umſonſt“ thut er nichts. Aber jenes „das Gute um des Guten willen thun“ ohne Ausſicht auf Beloh¬ nung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es gewähren ſoll, der Lohn enthalten wäre. Alſo auch die Re¬ ligion iſt auf unſern Egoismus begründet, und ſie — beutet ihn aus; berechnet aus unſere Begierden, erſtickt ſie viele andere um Einer willen. Dieß giebt denn die Erſcheinung des betrogenen Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige, ſondern eine meiner Begierden, z. B. den Glückſeligkeitstrieb. Die Religion verſpricht Mir das — „höchſte Gut“; dieß zu gewinnen achte Ich auf keine andere meiner Begierden mehr und ſättige ſie nicht. — All euer Thun und Treiben iſt un¬ eingeſtandener, heimlicher, verdeckter und verſteckter Egois¬ mus. Aber weil Egoismus, den Ihr Euch nicht geſtehen wollt, den Ihr Euch ſelbſt verheimlicht, alſo nicht offenbarer und offenkundiger, mithin unbewußter Egoismus, darum iſt er nicht Egoismus, ſondern Knechtſchaft, Dienſt, Selbſtver¬ leugnung. Ihr ſeid Egoiſten und Ihr ſeid es nicht, indem Ihr den Egoismus verleugnet. Wo Ihr's am meiſten zu ſein ſcheint, da habt Ihr dem Worte „Egoiſt“ — Abſcheu und Verachtung zugezogen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0225"n="217"/>
wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich ſeid, und laßt eure<lb/>
heuchleriſchen Beſtrebungen fahren, eure thörichte Sucht, etwas<lb/>
Anderes zu ſein, als Ihr ſeid. Heuchleriſch nenne Ich jene,<lb/>
weil Ihr doch alle dieſe Jahrtauſende Egoiſten geblieben ſeid,<lb/>
aber ſchlafende, ſich ſelbſt betrügende, verrückte Egoiſten, Ihr<lb/>
Heautontimorumenen, Ihr Selbſtpeiniger. Noch niemals hat<lb/>
eine Religion der Verſprechungen und „Verheißungen“ ent¬<lb/>
rathen können, mögen ſie auf's Jenſeits oder Dieſſeits ver¬<lb/>
weiſen („langes Leben“ u. ſ. w.); denn <hirendition="#g">lohnſüchtig</hi> iſt der<lb/>
Menſch, und „umſonſt“ thut er nichts. Aber jenes „das<lb/>
Gute um des Guten willen thun“ ohne Ausſicht auf Beloh¬<lb/>
nung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es<lb/>
gewähren ſoll, der Lohn enthalten wäre. Alſo auch die Re¬<lb/>
ligion iſt auf unſern Egoismus begründet, und ſie — beutet<lb/>
ihn aus; berechnet aus unſere <hirendition="#g">Begierden</hi>, erſtickt ſie viele<lb/>
andere um Einer willen. Dieß giebt denn die Erſcheinung<lb/>
des <hirendition="#g">betrogenen</hi> Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige,<lb/>ſondern eine meiner Begierden, z. B. den Glückſeligkeitstrieb.<lb/>
Die Religion verſpricht Mir das —„höchſte Gut“; dieß zu<lb/>
gewinnen achte Ich auf keine andere meiner Begierden mehr<lb/>
und ſättige ſie nicht. — All euer Thun und Treiben iſt <hirendition="#g">un¬<lb/>
eingeſtandener</hi>, heimlicher, verdeckter und verſteckter Egois¬<lb/>
mus. Aber weil Egoismus, den Ihr Euch nicht geſtehen<lb/>
wollt, den Ihr Euch ſelbſt verheimlicht, alſo nicht offenbarer<lb/>
und offenkundiger, mithin unbewußter Egoismus, darum iſt er<lb/><hirendition="#g">nicht Egoismus</hi>, ſondern Knechtſchaft, Dienſt, Selbſtver¬<lb/>
leugnung. Ihr ſeid Egoiſten und Ihr ſeid es nicht, indem<lb/>
Ihr den Egoismus verleugnet. Wo Ihr's am meiſten zu ſein<lb/>ſcheint, da habt Ihr dem Worte „Egoiſt“— Abſcheu und<lb/>
Verachtung zugezogen.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[217/0225]
wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich ſeid, und laßt eure
heuchleriſchen Beſtrebungen fahren, eure thörichte Sucht, etwas
Anderes zu ſein, als Ihr ſeid. Heuchleriſch nenne Ich jene,
weil Ihr doch alle dieſe Jahrtauſende Egoiſten geblieben ſeid,
aber ſchlafende, ſich ſelbſt betrügende, verrückte Egoiſten, Ihr
Heautontimorumenen, Ihr Selbſtpeiniger. Noch niemals hat
eine Religion der Verſprechungen und „Verheißungen“ ent¬
rathen können, mögen ſie auf's Jenſeits oder Dieſſeits ver¬
weiſen („langes Leben“ u. ſ. w.); denn lohnſüchtig iſt der
Menſch, und „umſonſt“ thut er nichts. Aber jenes „das
Gute um des Guten willen thun“ ohne Ausſicht auf Beloh¬
nung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es
gewähren ſoll, der Lohn enthalten wäre. Alſo auch die Re¬
ligion iſt auf unſern Egoismus begründet, und ſie — beutet
ihn aus; berechnet aus unſere Begierden, erſtickt ſie viele
andere um Einer willen. Dieß giebt denn die Erſcheinung
des betrogenen Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige,
ſondern eine meiner Begierden, z. B. den Glückſeligkeitstrieb.
Die Religion verſpricht Mir das — „höchſte Gut“; dieß zu
gewinnen achte Ich auf keine andere meiner Begierden mehr
und ſättige ſie nicht. — All euer Thun und Treiben iſt un¬
eingeſtandener, heimlicher, verdeckter und verſteckter Egois¬
mus. Aber weil Egoismus, den Ihr Euch nicht geſtehen
wollt, den Ihr Euch ſelbſt verheimlicht, alſo nicht offenbarer
und offenkundiger, mithin unbewußter Egoismus, darum iſt er
nicht Egoismus, ſondern Knechtſchaft, Dienſt, Selbſtver¬
leugnung. Ihr ſeid Egoiſten und Ihr ſeid es nicht, indem
Ihr den Egoismus verleugnet. Wo Ihr's am meiſten zu ſein
ſcheint, da habt Ihr dem Worte „Egoiſt“ — Abſcheu und
Verachtung zugezogen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/225>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.