Stehlen allgemein werden und auch ihn um das Seinige bringen könnte. Eine solche Berechnung läßt sich indeß schwer¬ lich bei Vielen voraussetzen, und man wird vielmehr den Aus¬ ruf hören: der Dieb sei ein "Verbrecher". Da haben Wir ein Urtheil vor Uns, indem die Handlung des Diebes ihren Ausdruck erhält in dem Begriffe "Verbrechen". Nun stellt sich die Sache so: Wenn ein Verbrechen auch weder Mir, noch irgend einem derjenigen, an welchen Ich Antheil nehme, den geringsten Schaden brächte, so würde Ich dennoch gegen dasselbe eifern. Warum? Weil Ich für die Sittlichkeit begeistert, von der Idee der Sittlichkeit erfüllt bin; was ihr feindlich ist, das verfolge Ich. Weil ihm der Diebstahl ohne alle Frage für verabscheuungswürdig gilt, darum glaubt z. B. Proudhon schon mit dem Satze: "Das Eigenthum ist ein Dieb¬ stahl" dieses gebrandmarkt zu haben. Im Sinne der Pfäffi¬ schen ist er allemal ein Verbrechen oder mindestens Vergehen.
Hier hat das persönliche Interesse ein Ende. Diese be¬ stimmte Person, die den Korb gestohlen hat, ist meiner Person völlig gleichgültig; nur an dem Diebe, diesem Begriffe, von welchem jene Person ein Exemplar darstellt, nehme Ich ein Interesse. Der Dieb und der Mensch sind in meinem Geiste unversöhnliche Gegensätze; denn man ist nicht wahrhaft Mensch, wenn man Dieb ist; man entwürdigt in sich den Menschen oder die "Menschheit", wenn man stiehlt. Aus dem persön¬ lichen Antheil herausfallend, geräth man in den Philan¬ thropismus, die Menschenfreundlichkeit, die gewöhnlich so mißverstanden wird, als sei sie eine Liebe zu den Menschen, zu jedem Einzelnen, während sie nichts als eine Liebe des Menschen, des unwirklichen Begriffes, des Spuks ist. Nicht tous anthropous, die Menschen, sondern ton anthropon, den
Stehlen allgemein werden und auch ihn um das Seinige bringen könnte. Eine ſolche Berechnung läßt ſich indeß ſchwer¬ lich bei Vielen vorausſetzen, und man wird vielmehr den Aus¬ ruf hören: der Dieb ſei ein „Verbrecher“. Da haben Wir ein Urtheil vor Uns, indem die Handlung des Diebes ihren Ausdruck erhält in dem Begriffe „Verbrechen“. Nun ſtellt ſich die Sache ſo: Wenn ein Verbrechen auch weder Mir, noch irgend einem derjenigen, an welchen Ich Antheil nehme, den geringſten Schaden brächte, ſo würde Ich dennoch gegen daſſelbe eifern. Warum? Weil Ich für die Sittlichkeit begeiſtert, von der Idee der Sittlichkeit erfüllt bin; was ihr feindlich iſt, das verfolge Ich. Weil ihm der Diebſtahl ohne alle Frage für verabſcheuungswürdig gilt, darum glaubt z. B. Proudhon ſchon mit dem Satze: „Das Eigenthum iſt ein Dieb¬ ſtahl“ dieſes gebrandmarkt zu haben. Im Sinne der Pfäffi¬ ſchen iſt er allemal ein Verbrechen oder mindeſtens Vergehen.
Hier hat das perſönliche Intereſſe ein Ende. Dieſe be¬ ſtimmte Perſon, die den Korb geſtohlen hat, iſt meiner Perſon völlig gleichgültig; nur an dem Diebe, dieſem Begriffe, von welchem jene Perſon ein Exemplar darſtellt, nehme Ich ein Intereſſe. Der Dieb und der Menſch ſind in meinem Geiſte unverſöhnliche Gegenſätze; denn man iſt nicht wahrhaft Menſch, wenn man Dieb iſt; man entwürdigt in ſich den Menſchen oder die „Menſchheit“, wenn man ſtiehlt. Aus dem perſön¬ lichen Antheil herausfallend, geräth man in den Philan¬ thropismus, die Menſchenfreundlichkeit, die gewöhnlich ſo mißverſtanden wird, als ſei ſie eine Liebe zu den Menſchen, zu jedem Einzelnen, während ſie nichts als eine Liebe des Menſchen, des unwirklichen Begriffes, des Spuks iſt. Nicht τοὺς ἀνϑϱώπους, die Menſchen, ſondern τὸν ἄνϑϱωπον, den
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Stehlen allgemein werden und auch ihn um das Seinige
bringen könnte. Eine ſolche Berechnung läßt ſich indeß ſchwer¬
lich bei Vielen vorausſetzen, und man wird vielmehr den Aus¬
ruf hören: der Dieb ſei ein „Verbrecher“. Da haben Wir
ein Urtheil vor Uns, indem die Handlung des Diebes ihren
Ausdruck erhält in dem Begriffe „Verbrechen“. Nun ſtellt
ſich die Sache ſo: Wenn ein Verbrechen auch weder Mir,
noch irgend einem derjenigen, an welchen Ich Antheil nehme,
den geringſten Schaden brächte, ſo würde Ich dennoch gegen
daſſelbe eifern. Warum? Weil Ich für die Sittlichkeit
begeiſtert, von der Idee der Sittlichkeit erfüllt bin; was ihr
feindlich iſt, das verfolge Ich. Weil ihm der Diebſtahl ohne
alle Frage für verabſcheuungswürdig gilt, darum glaubt z. B.
Proudhon ſchon mit dem Satze: „Das Eigenthum iſt ein Dieb¬
ſtahl“ dieſes gebrandmarkt zu haben. Im Sinne der Pfäffi¬
ſchen iſt er allemal ein Verbrechen oder mindeſtens Vergehen.
Hier hat das perſönliche Intereſſe ein Ende. Dieſe be¬
ſtimmte Perſon, die den Korb geſtohlen hat, iſt meiner Perſon
völlig gleichgültig; nur an dem Diebe, dieſem Begriffe, von
welchem jene Perſon ein Exemplar darſtellt, nehme Ich ein
Intereſſe. Der Dieb und der Menſch ſind in meinem Geiſte
unverſöhnliche Gegenſätze; denn man iſt nicht wahrhaft Menſch,
wenn man Dieb iſt; man entwürdigt in ſich den Menſchen
oder die „Menſchheit“, wenn man ſtiehlt. Aus dem perſön¬
lichen Antheil herausfallend, geräth man in den Philan¬
thropismus, die Menſchenfreundlichkeit, die gewöhnlich ſo
mißverſtanden wird, als ſei ſie eine Liebe zu den Menſchen,
zu jedem Einzelnen, während ſie nichts als eine Liebe des
Menſchen, des unwirklichen Begriffes, des Spuks iſt. Nicht
τοὺς ἀνϑϱώπους, die Menſchen, ſondern τὸν ἄνϑϱωπον, den
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/110>, abgerufen am 27.11.2024.
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