Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 2. Pest u. a., 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

man nicht drei Schritte vor sich sehen; alles war,
wenn man so sagen darf, in eine einzige weiße Finster¬
niß gehüllt, und weil kein Schatten war, so war kein
Urtheil über die Größe der Dinge, und die Kinder
konnten nicht wissen, ob sie aufwärts oder abwärts
gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte,
und ihn aufwärts zu gehen zwang.

"Mir thun die Augen weh," sagte Sanna.

"Schaue nicht auf den Schnee," antwortete der
Knabe, "sondern in die Wolken. Mir thun sie
schon lange weh; aber es thut nichts, ich muß doch
auf den Schnee schauen, weil ich auf den Weg zu
achten habe. Fürchte dich nur nicht, ich führe dich doch
hinunter ins Gschaid."

"Ja, Konrad."

Sie gingen wieder fort; aber wie sie auch gehen
mochten, wie sie sich auch wenden mochten, es wollte
kein Anfang zum Hinabwärtsgehen kommen. An
beiden Seiten waren steile Dachlehnen nach aufwärts,
mitten gingen sie fort, aber auch immer aufwärts.
Wenn sie den Dachlehnen entrannen, und sie nach ab¬
wärts beugten, wurde es gleich so steil, daß sie wieder
umkehren mußten, die Füßlein stießen oft auf Uneben¬
heiten, und sie mußten häufig Büheln ausweichen.

Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer durch

man nicht drei Schritte vor ſich ſehen; alles war,
wenn man ſo ſagen darf, in eine einzige weiße Finſter¬
niß gehüllt, und weil kein Schatten war, ſo war kein
Urtheil über die Größe der Dinge, und die Kinder
konnten nicht wiſſen, ob ſie aufwärts oder abwärts
gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte,
und ihn aufwärts zu gehen zwang.

„Mir thun die Augen weh,“ ſagte Sanna.

„Schaue nicht auf den Schnee,“ antwortete der
Knabe, „ſondern in die Wolken. Mir thun ſie
ſchon lange weh; aber es thut nichts, ich muß doch
auf den Schnee ſchauen, weil ich auf den Weg zu
achten habe. Fürchte dich nur nicht, ich führe dich doch
hinunter ins Gſchaid.“

„Ja, Konrad.“

Sie gingen wieder fort; aber wie ſie auch gehen
mochten, wie ſie ſich auch wenden mochten, es wollte
kein Anfang zum Hinabwärtsgehen kommen. An
beiden Seiten waren ſteile Dachlehnen nach aufwärts,
mitten gingen ſie fort, aber auch immer aufwärts.
Wenn ſie den Dachlehnen entrannen, und ſie nach ab¬
wärts beugten, wurde es gleich ſo ſteil, daß ſie wieder
umkehren mußten, die Füßlein ſtießen oft auf Uneben¬
heiten, und ſie mußten häufig Büheln ausweichen.

Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer durch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0066" n="55"/>
man nicht drei Schritte vor &#x017F;ich &#x017F;ehen; alles war,<lb/>
wenn man &#x017F;o &#x017F;agen darf, in eine einzige weiße Fin&#x017F;ter¬<lb/>
niß gehüllt, und weil kein Schatten war, &#x017F;o war kein<lb/>
Urtheil über die Größe der Dinge, und die Kinder<lb/>
konnten nicht wi&#x017F;&#x017F;en, ob &#x017F;ie aufwärts oder abwärts<lb/>
gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte,<lb/>
und ihn aufwärts zu gehen zwang.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mir thun die Augen weh,&#x201C; &#x017F;agte Sanna.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Schaue nicht auf den Schnee,&#x201C; antwortete der<lb/>
Knabe, &#x201E;&#x017F;ondern in die Wolken. Mir thun &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;chon lange weh; aber es thut nichts, ich muß doch<lb/>
auf den Schnee &#x017F;chauen, weil ich auf den Weg zu<lb/>
achten habe. Fürchte dich nur nicht, ich führe dich doch<lb/>
hinunter ins G&#x017F;chaid.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ja, Konrad.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie gingen wieder fort; aber wie &#x017F;ie auch gehen<lb/>
mochten, wie &#x017F;ie &#x017F;ich auch wenden mochten, es wollte<lb/>
kein Anfang zum Hinabwärtsgehen kommen. An<lb/>
beiden Seiten waren &#x017F;teile Dachlehnen nach aufwärts,<lb/>
mitten gingen &#x017F;ie fort, aber auch immer aufwärts.<lb/>
Wenn &#x017F;ie den Dachlehnen entrannen, und &#x017F;ie nach ab¬<lb/>
wärts beugten, wurde es gleich &#x017F;o &#x017F;teil, daß &#x017F;ie wieder<lb/>
umkehren mußten, die Füßlein &#x017F;tießen oft auf Uneben¬<lb/>
heiten, und &#x017F;ie mußten häufig Büheln ausweichen.</p><lb/>
        <p>Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer durch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0066] man nicht drei Schritte vor ſich ſehen; alles war, wenn man ſo ſagen darf, in eine einzige weiße Finſter¬ niß gehüllt, und weil kein Schatten war, ſo war kein Urtheil über die Größe der Dinge, und die Kinder konnten nicht wiſſen, ob ſie aufwärts oder abwärts gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte, und ihn aufwärts zu gehen zwang. „Mir thun die Augen weh,“ ſagte Sanna. „Schaue nicht auf den Schnee,“ antwortete der Knabe, „ſondern in die Wolken. Mir thun ſie ſchon lange weh; aber es thut nichts, ich muß doch auf den Schnee ſchauen, weil ich auf den Weg zu achten habe. Fürchte dich nur nicht, ich führe dich doch hinunter ins Gſchaid.“ „Ja, Konrad.“ Sie gingen wieder fort; aber wie ſie auch gehen mochten, wie ſie ſich auch wenden mochten, es wollte kein Anfang zum Hinabwärtsgehen kommen. An beiden Seiten waren ſteile Dachlehnen nach aufwärts, mitten gingen ſie fort, aber auch immer aufwärts. Wenn ſie den Dachlehnen entrannen, und ſie nach ab¬ wärts beugten, wurde es gleich ſo ſteil, daß ſie wieder umkehren mußten, die Füßlein ſtießen oft auf Uneben¬ heiten, und ſie mußten häufig Büheln ausweichen. Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine02_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine02_1853/66
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 2. Pest u. a., 1853, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine02_1853/66>, abgerufen am 24.11.2024.