Schreiben. Der Bruder war viel geschikter als ich, er konnte sich die Buchstaben merken, er konnte sie zu Silben verbinden, er konnte deutlich und in Absäzen lesen, ihm kam in der Rechnung immer die rechte Zahl, und seine Buchstaben standen in der Schrift gleich und auf der nehmlichen Linie. Bei mir war das anders. Die Buchstabennamen wollten mir nicht einfallen, dann konnte ich die Silbe nicht sagen, die sie mir vorstellten, und beim Lesen waren die großen Wörter sehr schwer, und es war eine Pein, wenn sehr lange kein Beistrich erschien. In der Rechnung befolgte ich die Regeln, aber es standen am Ende meistens ganz andere Zahlen da, als uns heraus kommen mußten. Bei dem Schreiben hielt ich die Feder sehr genau, sah fest auf die Linie, fuhr gleich¬ mäßig auf und nieder, und doch standen die Buch¬ staben nicht gleich, sie senkten sich unter die Linie, sie sahen nach verschiedenen Richtungen, und die Feder konnte keinen Haarstrich machen. Der Lehrer war sehr eifrig, der Bruder zeigte mir auch vieles, bis ich die Sachen machen konnte. Wir hatten in der Stube einen großen eichenen Tisch, auf welchem wir lernten. An jeder der zwei Langseiten des Tisches waren meh¬ rere Fächer angebracht, die heraus zu ziehen waren, wovon die eine Reihe dem Bruder diente, seine Schul¬
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Schreiben. Der Bruder war viel geſchikter als ich, er konnte ſich die Buchſtaben merken, er konnte ſie zu Silben verbinden, er konnte deutlich und in Abſäzen leſen, ihm kam in der Rechnung immer die rechte Zahl, und ſeine Buchſtaben ſtanden in der Schrift gleich und auf der nehmlichen Linie. Bei mir war das anders. Die Buchſtabennamen wollten mir nicht einfallen, dann konnte ich die Silbe nicht ſagen, die ſie mir vorſtellten, und beim Leſen waren die großen Wörter ſehr ſchwer, und es war eine Pein, wenn ſehr lange kein Beiſtrich erſchien. In der Rechnung befolgte ich die Regeln, aber es ſtanden am Ende meiſtens ganz andere Zahlen da, als uns heraus kommen mußten. Bei dem Schreiben hielt ich die Feder ſehr genau, ſah feſt auf die Linie, fuhr gleich¬ mäßig auf und nieder, und doch ſtanden die Buch¬ ſtaben nicht gleich, ſie ſenkten ſich unter die Linie, ſie ſahen nach verſchiedenen Richtungen, und die Feder konnte keinen Haarſtrich machen. Der Lehrer war ſehr eifrig, der Bruder zeigte mir auch vieles, bis ich die Sachen machen konnte. Wir hatten in der Stube einen großen eichenen Tiſch, auf welchem wir lernten. An jeder der zwei Langſeiten des Tiſches waren meh¬ rere Fächer angebracht, die heraus zu ziehen waren, wovon die eine Reihe dem Bruder diente, ſeine Schul¬
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Schreiben. Der Bruder war viel geſchikter als ich,
er konnte ſich die Buchſtaben merken, er konnte ſie zu
Silben verbinden, er konnte deutlich und in Abſäzen
leſen, ihm kam in der Rechnung immer die rechte
Zahl, und ſeine Buchſtaben ſtanden in der Schrift
gleich und auf der nehmlichen Linie. Bei mir war
das anders. Die Buchſtabennamen wollten mir nicht
einfallen, dann konnte ich die Silbe nicht ſagen, die
ſie mir vorſtellten, und beim Leſen waren die großen
Wörter ſehr ſchwer, und es war eine Pein, wenn
ſehr lange kein Beiſtrich erſchien. In der Rechnung
befolgte ich die Regeln, aber es ſtanden am Ende
meiſtens ganz andere Zahlen da, als uns heraus
kommen mußten. Bei dem Schreiben hielt ich die
Feder ſehr genau, ſah feſt auf die Linie, fuhr gleich¬
mäßig auf und nieder, und doch ſtanden die Buch¬
ſtaben nicht gleich, ſie ſenkten ſich unter die Linie, ſie
ſahen nach verſchiedenen Richtungen, und die Feder
konnte keinen Haarſtrich machen. Der Lehrer war ſehr
eifrig, der Bruder zeigte mir auch vieles, bis ich die
Sachen machen konnte. Wir hatten in der Stube
einen großen eichenen Tiſch, auf welchem wir lernten.
An jeder der zwei Langſeiten des Tiſches waren meh¬
rere Fächer angebracht, die heraus zu ziehen waren,
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Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 1. Pest u. a., 1853, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine01_1853/160>, abgerufen am 26.11.2024.
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