der menschlich sittlichen und der irdisch merkwürdigen Zustände in der Dichtkunst. Ich gab mich diesen Ge¬ stalten mit Wärme hin, und verlangte Gebilde, die ihnen ähnlich sind, im Leben. Felsen Berge Wolken Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die entgegenge¬ sezten verachtete ich. Menschen menschliche Handlun¬ gen und Verhältnisse, die ihnen entsprachen, zogen mich an, die andern stießen mich ab. Es war, ich er¬ kannte es spät, im Grunde die Wesenheit eines Künstlers, die sich in mir offenbarte und ihre Erfül¬ lung heischte. Ob ich ein guter oder ein mittelmäßiger Künstler geworden wäre, weiß ich nicht. Ein großer aber wahrscheinlich nicht, weil dann nach allem Ver¬ muthen doch die Begabung durchgebrochen wäre, und ihren Gegenstand ergriffen hätte. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr blos die Anlage des Kunstverständnisses, was sich offenbarte, als die der Kunstgestaltung. Wie das aber auch ist: in jedem Falle waren die Kräfte, die sich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher hinderlich als för¬ derlich. Sie verlangten Gestalten und bewegten sich um Gestalten. So wie aber der Staat selber die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen der Men¬ schen ist, also nicht eine Gestalt sondern eine Fassung:
der menſchlich ſittlichen und der irdiſch merkwürdigen Zuſtände in der Dichtkunſt. Ich gab mich dieſen Ge¬ ſtalten mit Wärme hin, und verlangte Gebilde, die ihnen ähnlich ſind, im Leben. Felſen Berge Wolken Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die entgegenge¬ ſezten verachtete ich. Menſchen menſchliche Handlun¬ gen und Verhältniſſe, die ihnen entſprachen, zogen mich an, die andern ſtießen mich ab. Es war, ich er¬ kannte es ſpät, im Grunde die Weſenheit eines Künſtlers, die ſich in mir offenbarte und ihre Erfül¬ lung heiſchte. Ob ich ein guter oder ein mittelmäßiger Künſtler geworden wäre, weiß ich nicht. Ein großer aber wahrſcheinlich nicht, weil dann nach allem Ver¬ muthen doch die Begabung durchgebrochen wäre, und ihren Gegenſtand ergriffen hätte. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr blos die Anlage des Kunſtverſtändniſſes, was ſich offenbarte, als die der Kunſtgeſtaltung. Wie das aber auch iſt: in jedem Falle waren die Kräfte, die ſich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher hinderlich als för¬ derlich. Sie verlangten Geſtalten und bewegten ſich um Geſtalten. So wie aber der Staat ſelber die Ordnung der geſellſchaftlichen Beziehungen der Men¬ ſchen iſt, alſo nicht eine Geſtalt ſondern eine Faſſung:
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0234"n="220"/>
der menſchlich ſittlichen und der irdiſch merkwürdigen<lb/>
Zuſtände in der Dichtkunſt. Ich gab mich dieſen Ge¬<lb/>ſtalten mit Wärme hin, und verlangte Gebilde, die<lb/>
ihnen ähnlich ſind, im Leben. Felſen Berge Wolken<lb/>
Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die entgegenge¬<lb/>ſezten verachtete ich. Menſchen menſchliche Handlun¬<lb/>
gen und Verhältniſſe, die ihnen entſprachen, zogen<lb/>
mich an, die andern ſtießen mich ab. Es war, ich er¬<lb/>
kannte es ſpät, im Grunde die Weſenheit eines<lb/>
Künſtlers, die ſich in mir offenbarte und ihre Erfül¬<lb/>
lung heiſchte. Ob ich ein guter oder ein mittelmäßiger<lb/>
Künſtler geworden wäre, weiß ich nicht. Ein großer<lb/>
aber wahrſcheinlich nicht, weil dann nach allem Ver¬<lb/>
muthen doch die Begabung durchgebrochen wäre, und<lb/>
ihren Gegenſtand ergriffen hätte. Vielleicht irre ich<lb/>
mich auch darin, und es war mehr blos die Anlage<lb/>
des Kunſtverſtändniſſes, was ſich offenbarte, als die<lb/>
der Kunſtgeſtaltung. Wie das aber auch iſt: in jedem<lb/>
Falle waren die Kräfte, die ſich in mir regten, dem<lb/>
Wirken eines Staatsdieners eher hinderlich als för¬<lb/>
derlich. Sie verlangten Geſtalten und bewegten ſich<lb/>
um Geſtalten. So wie aber der Staat ſelber die<lb/>
Ordnung der geſellſchaftlichen Beziehungen der Men¬<lb/>ſchen iſt, alſo nicht eine Geſtalt ſondern eine Faſſung:<lb/></p></div></body></text></TEI>
[220/0234]
der menſchlich ſittlichen und der irdiſch merkwürdigen
Zuſtände in der Dichtkunſt. Ich gab mich dieſen Ge¬
ſtalten mit Wärme hin, und verlangte Gebilde, die
ihnen ähnlich ſind, im Leben. Felſen Berge Wolken
Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die entgegenge¬
ſezten verachtete ich. Menſchen menſchliche Handlun¬
gen und Verhältniſſe, die ihnen entſprachen, zogen
mich an, die andern ſtießen mich ab. Es war, ich er¬
kannte es ſpät, im Grunde die Weſenheit eines
Künſtlers, die ſich in mir offenbarte und ihre Erfül¬
lung heiſchte. Ob ich ein guter oder ein mittelmäßiger
Künſtler geworden wäre, weiß ich nicht. Ein großer
aber wahrſcheinlich nicht, weil dann nach allem Ver¬
muthen doch die Begabung durchgebrochen wäre, und
ihren Gegenſtand ergriffen hätte. Vielleicht irre ich
mich auch darin, und es war mehr blos die Anlage
des Kunſtverſtändniſſes, was ſich offenbarte, als die
der Kunſtgeſtaltung. Wie das aber auch iſt: in jedem
Falle waren die Kräfte, die ſich in mir regten, dem
Wirken eines Staatsdieners eher hinderlich als för¬
derlich. Sie verlangten Geſtalten und bewegten ſich
um Geſtalten. So wie aber der Staat ſelber die
Ordnung der geſellſchaftlichen Beziehungen der Men¬
ſchen iſt, alſo nicht eine Geſtalt ſondern eine Faſſung:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/234>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.