Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬ niß der Tageintheilung wußte ich, daß er seine Be¬ schäftigung mit Gustav fortsezte.
Ich ging zuerst auf die Marmortreppe. Ich suchte sie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬ schaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬ ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬ schrieben war, Filzschuhe, welche immer in Bereit¬ schaft standen, an, und ging die glatte schöne Treppe hinunter. Als ich in die Mitte derselben gekommen war, wo sich der breite Absaz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung gewesen. Ich wollte die alterthümliche Marmorgestalt betrach¬ ten. Selbst heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf ihr rinnende Wasser getrübt war, gleichsam träge nieder fiel, war die Erscheinung eine gewaltige und erhebende. Die hehre Jungfrau, sonst immer sanft und hoch, stand heute in den flüssigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der Ernst des Tages legte sich auch als Ernst auf ihre unaussprechlich anmuthigen Glieder. Ich sah die Ge¬ stalt lange an, sie war mir wie bei jedem erneuerten Anblicke wieder neu. Wie sehr mir auch die blendend
Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬ niß der Tageintheilung wußte ich, daß er ſeine Be¬ ſchäftigung mit Guſtav fortſezte.
Ich ging zuerſt auf die Marmortreppe. Ich ſuchte ſie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬ ſchaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬ ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬ ſchrieben war, Filzſchuhe, welche immer in Bereit¬ ſchaft ſtanden, an, und ging die glatte ſchöne Treppe hinunter. Als ich in die Mitte derſelben gekommen war, wo ſich der breite Abſaz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung geweſen. Ich wollte die alterthümliche Marmorgeſtalt betrach¬ ten. Selbſt heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf ihr rinnende Waſſer getrübt war, gleichſam träge nieder fiel, war die Erſcheinung eine gewaltige und erhebende. Die hehre Jungfrau, ſonſt immer ſanft und hoch, ſtand heute in den flüſſigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der Ernſt des Tages legte ſich auch als Ernſt auf ihre unausſprechlich anmuthigen Glieder. Ich ſah die Ge¬ ſtalt lange an, ſie war mir wie bei jedem erneuerten Anblicke wieder neu. Wie ſehr mir auch die blendend
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0206"n="192"/><p>Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬<lb/>
niß der Tageintheilung wußte ich, daß er ſeine Be¬<lb/>ſchäftigung mit Guſtav fortſezte.</p><lb/><p>Ich ging zuerſt auf die Marmortreppe. Ich ſuchte<lb/>ſie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬<lb/>ſchaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬<lb/>
ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬<lb/>ſchrieben war, Filzſchuhe, welche immer in Bereit¬<lb/>ſchaft ſtanden, an, und ging die glatte ſchöne Treppe<lb/>
hinunter. Als ich in die Mitte derſelben gekommen<lb/>
war, wo ſich der breite Abſaz befindet, hielt ich an;<lb/>
denn das war das Ziel meiner Wanderung geweſen.<lb/>
Ich wollte die alterthümliche Marmorgeſtalt betrach¬<lb/>
ten. Selbſt heute in dem bleiernen Lichte, das durch<lb/>
die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf<lb/>
ihr rinnende Waſſer getrübt war, gleichſam träge<lb/>
nieder fiel, war die Erſcheinung eine gewaltige und<lb/>
erhebende. Die hehre Jungfrau, ſonſt immer ſanft<lb/>
und hoch, ſtand heute in den flüſſigen Schleiern des<lb/>
dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der<lb/>
Ernſt des Tages legte ſich auch als Ernſt auf ihre<lb/>
unausſprechlich anmuthigen Glieder. Ich ſah die Ge¬<lb/>ſtalt lange an, ſie war mir wie bei jedem erneuerten<lb/>
Anblicke wieder neu. Wie ſehr mir auch die blendend<lb/></p></div></body></text></TEI>
[192/0206]
Ich dankte, und entfernte mich. Nach meiner Kennt¬
niß der Tageintheilung wußte ich, daß er ſeine Be¬
ſchäftigung mit Guſtav fortſezte.
Ich ging zuerſt auf die Marmortreppe. Ich ſuchte
ſie von oben zu gewinnen. Als ich von dem gemein¬
ſchaftlichen Gange in den oberen Theil des Marmor¬
ganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorge¬
ſchrieben war, Filzſchuhe, welche immer in Bereit¬
ſchaft ſtanden, an, und ging die glatte ſchöne Treppe
hinunter. Als ich in die Mitte derſelben gekommen
war, wo ſich der breite Abſaz befindet, hielt ich an;
denn das war das Ziel meiner Wanderung geweſen.
Ich wollte die alterthümliche Marmorgeſtalt betrach¬
ten. Selbſt heute in dem bleiernen Lichte, das durch
die Glaswölbung, welche noch dazu durch das auf
ihr rinnende Waſſer getrübt war, gleichſam träge
nieder fiel, war die Erſcheinung eine gewaltige und
erhebende. Die hehre Jungfrau, ſonſt immer ſanft
und hoch, ſtand heute in den flüſſigen Schleiern des
dumpferen Lichtes zwar trüb aber mild da, und der
Ernſt des Tages legte ſich auch als Ernſt auf ihre
unausſprechlich anmuthigen Glieder. Ich ſah die Ge¬
ſtalt lange an, ſie war mir wie bei jedem erneuerten
Anblicke wieder neu. Wie ſehr mir auch die blendend
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/206>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.