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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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werke waren, wie ich jezt immer mehr einsah, so hat¬
ten sie doch einen Vorzug, den ich erst später recht er¬
kannte, und der darin bestand, daß ich nicht wie ein
Künstler nach Abrundung noch zusammenstimmender
Wirkung oder Anwendung von Schulregeln rang,
sondern mich ohne vorgefaßter Einübung den Dingen
hingab, und sie so darzustellen suchte, wie ich sie sah.
Dadurch gewannen sie, was sie auch an Schmelz und
Einheit verloren, an Naturwahrheit in einzelnen
Stücken, und gaben dem Nichtkenner und dem, der nie
die Gebirge gesehen hatte, eine bessere Vorstellung als
schöne und künstlerisch vollendete Gemälde, wenn sie
nicht die vollendetsten waren, die dann freilich auch
die Wahrheit im höchsten Maße trugen. Aus diesem
Grunde sagte mir Klotilde durch eine Art unbewußter
Ahnung, sie wisse jezt, wie die Berge aussehen, was
sie aus vielen und guten Bildern nicht gewußt hätte.
Sie äußerte auch den Wunsch, einmal die hohen
Berge selber sehen zu können, und meinte, wenn der
Vater die Reise in das Rosenhaus und in den Ster¬
nenhof mache, und bei dieser Gelegenheit auch die
Gebirge besuche, werde sie ihn bitten, sie mitreisen zu
lassen. Ich erzählte ihr nun recht viel von den Ber¬
gen, beschrieb ihr ihre Herrlichkeit und Größe, machte

werke waren, wie ich jezt immer mehr einſah, ſo hat¬
ten ſie doch einen Vorzug, den ich erſt ſpäter recht er¬
kannte, und der darin beſtand, daß ich nicht wie ein
Künſtler nach Abrundung noch zuſammenſtimmender
Wirkung oder Anwendung von Schulregeln rang,
ſondern mich ohne vorgefaßter Einübung den Dingen
hingab, und ſie ſo darzuſtellen ſuchte, wie ich ſie ſah.
Dadurch gewannen ſie, was ſie auch an Schmelz und
Einheit verloren, an Naturwahrheit in einzelnen
Stücken, und gaben dem Nichtkenner und dem, der nie
die Gebirge geſehen hatte, eine beſſere Vorſtellung als
ſchöne und künſtleriſch vollendete Gemälde, wenn ſie
nicht die vollendetſten waren, die dann freilich auch
die Wahrheit im höchſten Maße trugen. Aus dieſem
Grunde ſagte mir Klotilde durch eine Art unbewußter
Ahnung, ſie wiſſe jezt, wie die Berge ausſehen, was
ſie aus vielen und guten Bildern nicht gewußt hätte.
Sie äußerte auch den Wunſch, einmal die hohen
Berge ſelber ſehen zu können, und meinte, wenn der
Vater die Reiſe in das Roſenhaus und in den Ster¬
nenhof mache, und bei dieſer Gelegenheit auch die
Gebirge beſuche, werde ſie ihn bitten, ſie mitreiſen zu
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[72/0086] werke waren, wie ich jezt immer mehr einſah, ſo hat¬ ten ſie doch einen Vorzug, den ich erſt ſpäter recht er¬ kannte, und der darin beſtand, daß ich nicht wie ein Künſtler nach Abrundung noch zuſammenſtimmender Wirkung oder Anwendung von Schulregeln rang, ſondern mich ohne vorgefaßter Einübung den Dingen hingab, und ſie ſo darzuſtellen ſuchte, wie ich ſie ſah. Dadurch gewannen ſie, was ſie auch an Schmelz und Einheit verloren, an Naturwahrheit in einzelnen Stücken, und gaben dem Nichtkenner und dem, der nie die Gebirge geſehen hatte, eine beſſere Vorſtellung als ſchöne und künſtleriſch vollendete Gemälde, wenn ſie nicht die vollendetſten waren, die dann freilich auch die Wahrheit im höchſten Maße trugen. Aus dieſem Grunde ſagte mir Klotilde durch eine Art unbewußter Ahnung, ſie wiſſe jezt, wie die Berge ausſehen, was ſie aus vielen und guten Bildern nicht gewußt hätte. Sie äußerte auch den Wunſch, einmal die hohen Berge ſelber ſehen zu können, und meinte, wenn der Vater die Reiſe in das Roſenhaus und in den Ster¬ nenhof mache, und bei dieſer Gelegenheit auch die Gebirge beſuche, werde ſie ihn bitten, ſie mitreiſen zu laſſen. Ich erzählte ihr nun recht viel von den Ber¬ gen, beſchrieb ihr ihre Herrlichkeit und Größe, machte

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/86>, abgerufen am 24.11.2024.