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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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"Das werde ich nicht thun, Mutter," entgegnete
Natalie, "aber lasse mich gehen, es ist ein Wunsch in
mir, so zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie
ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß
du dich nicht beunruhigest. Ich möchte auf dem Fel¬
derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und
in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen,
und alles darin beschauen und betrachten. Und die
Ruhe schließt dann so schön das Gemüth und den
Willen ab."

Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬
ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit sich er¬
hizt habe, zeigte ihr Angesicht. Dasselbe behielt die
Röthe, welche es nach dem ersten Erblassen erhalten
hatte, und verlor sie nur in geringem Maße, während
sie an dem Tische saß, was doch eine geraume Zeit
dauerte. Es blühte dieses Roth wie ein sanftes Licht
auf ihren Wangen, und verschönerte sie gleichsam wie
ein klarer Schimmer.

Sie fuhr in ihrem Geschäfte mit den Blumen
fort, sie legte eine nach der andern von dem größeren
Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß
der größere wurde, der größere aber sich immer ver¬
kleinerte. Sie schied keine einzige Blume aus, sie

„Das werde ich nicht thun, Mutter,“ entgegnete
Natalie, „aber laſſe mich gehen, es iſt ein Wunſch in
mir, ſo zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie
ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß
du dich nicht beunruhigeſt. Ich möchte auf dem Fel¬
derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und
in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen,
und alles darin beſchauen und betrachten. Und die
Ruhe ſchließt dann ſo ſchön das Gemüth und den
Willen ab.“

Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬
ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit ſich er¬
hizt habe, zeigte ihr Angeſicht. Dasſelbe behielt die
Röthe, welche es nach dem erſten Erblaſſen erhalten
hatte, und verlor ſie nur in geringem Maße, während
ſie an dem Tiſche ſaß, was doch eine geraume Zeit
dauerte. Es blühte dieſes Roth wie ein ſanftes Licht
auf ihren Wangen, und verſchönerte ſie gleichſam wie
ein klarer Schimmer.

Sie fuhr in ihrem Geſchäfte mit den Blumen
fort, ſie legte eine nach der andern von dem größeren
Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß
der größere wurde, der größere aber ſich immer ver¬
kleinerte. Sie ſchied keine einzige Blume aus, ſie

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[306/0320] „Das werde ich nicht thun, Mutter,“ entgegnete Natalie, „aber laſſe mich gehen, es iſt ein Wunſch in mir, ſo zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß du dich nicht beunruhigeſt. Ich möchte auf dem Fel¬ derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen, und alles darin beſchauen und betrachten. Und die Ruhe ſchließt dann ſo ſchön das Gemüth und den Willen ab.“ Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬ ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit ſich er¬ hizt habe, zeigte ihr Angeſicht. Dasſelbe behielt die Röthe, welche es nach dem erſten Erblaſſen erhalten hatte, und verlor ſie nur in geringem Maße, während ſie an dem Tiſche ſaß, was doch eine geraume Zeit dauerte. Es blühte dieſes Roth wie ein ſanftes Licht auf ihren Wangen, und verſchönerte ſie gleichſam wie ein klarer Schimmer. Sie fuhr in ihrem Geſchäfte mit den Blumen fort, ſie legte eine nach der andern von dem größeren Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß der größere wurde, der größere aber ſich immer ver¬ kleinerte. Sie ſchied keine einzige Blume aus, ſie

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/320>, abgerufen am 22.11.2024.