auch ein Angesicht betrachten, über welches Jahre hin¬ gegangen sind? Liegt nicht eine Geschichte darin, oft eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die ihren Widerschein auf die Züge gießt, daß wir sie mit Rührung lesen oder ahnen? Die Jugend weist auf die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬ genheit. Hat diese kein Recht auf unsern Antheil? Als ich Mathilden das erste Mal sah, fiel mir das Bild der verblühenden Rose ein, welches mein Gastfreund von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es so treffend fand; und später oft, wenn ich Mathilden betrachtete, gesellte sich das Bild wieder zu meinen Gedanken, es erregten sich neue, und es erzeugte sich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal gedacht, daß Mathilde aussehe, wie ein Bild der Ver¬ gebung, und später dachte ich es mir öfter. Ihr An¬ gesicht mußte sehr schön gewesen sein, vielleicht gar so schön wie jezt Nataliens, nun ist es ganz anders; aber es spricht leise von einer Vergangenheit, daß wir meinen, wir müßten sie vernehmen können, und wir vernähmen sie auch gerne, weil sie uns so an¬ ziehend scheint. Sie muß manche Neigungen gehabt haben, sie muß manche Freuden erlebt und manches Gut verloren haben, sie hat Schmerzen und Kummer
auch ein Angeſicht betrachten, über welches Jahre hin¬ gegangen ſind? Liegt nicht eine Geſchichte darin, oft eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die ihren Widerſchein auf die Züge gießt, daß wir ſie mit Rührung leſen oder ahnen? Die Jugend weist auf die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬ genheit. Hat dieſe kein Recht auf unſern Antheil? Als ich Mathilden das erſte Mal ſah, fiel mir das Bild der verblühenden Roſe ein, welches mein Gaſtfreund von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es ſo treffend fand; und ſpäter oft, wenn ich Mathilden betrachtete, geſellte ſich das Bild wieder zu meinen Gedanken, es erregten ſich neue, und es erzeugte ſich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal gedacht, daß Mathilde ausſehe, wie ein Bild der Ver¬ gebung, und ſpäter dachte ich es mir öfter. Ihr An¬ geſicht mußte ſehr ſchön geweſen ſein, vielleicht gar ſo ſchön wie jezt Nataliens, nun iſt es ganz anders; aber es ſpricht leiſe von einer Vergangenheit, daß wir meinen, wir müßten ſie vernehmen können, und wir vernähmen ſie auch gerne, weil ſie uns ſo an¬ ziehend ſcheint. Sie muß manche Neigungen gehabt haben, ſie muß manche Freuden erlebt und manches Gut verloren haben, ſie hat Schmerzen und Kummer
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0267"n="253"/>
auch ein Angeſicht betrachten, über welches Jahre hin¬<lb/>
gegangen ſind? Liegt nicht eine Geſchichte darin, oft<lb/>
eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die<lb/>
ihren Widerſchein auf die Züge gießt, daß wir ſie mit<lb/>
Rührung leſen oder ahnen? Die Jugend weist auf<lb/>
die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬<lb/>
genheit. Hat dieſe kein Recht auf unſern Antheil? Als<lb/>
ich Mathilden das erſte Mal ſah, fiel mir das Bild<lb/>
der verblühenden Roſe ein, welches mein Gaſtfreund<lb/>
von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es ſo<lb/>
treffend fand; und ſpäter oft, wenn ich Mathilden<lb/>
betrachtete, geſellte ſich das Bild wieder zu meinen<lb/>
Gedanken, es erregten ſich neue, und es erzeugte<lb/>ſich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal<lb/>
gedacht, daß Mathilde ausſehe, wie ein Bild der Ver¬<lb/>
gebung, und ſpäter dachte ich es mir öfter. Ihr An¬<lb/>
geſicht mußte ſehr ſchön geweſen ſein, vielleicht gar ſo<lb/>ſchön wie jezt Nataliens, nun iſt es ganz anders;<lb/>
aber es ſpricht leiſe von einer Vergangenheit, daß<lb/>
wir meinen, wir müßten ſie vernehmen können, und<lb/>
wir vernähmen ſie auch gerne, weil ſie uns ſo an¬<lb/>
ziehend ſcheint. Sie muß manche Neigungen gehabt<lb/>
haben, ſie muß manche Freuden erlebt und manches<lb/>
Gut verloren haben, ſie hat Schmerzen und Kummer<lb/></p></div></body></text></TEI>
[253/0267]
auch ein Angeſicht betrachten, über welches Jahre hin¬
gegangen ſind? Liegt nicht eine Geſchichte darin, oft
eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die
ihren Widerſchein auf die Züge gießt, daß wir ſie mit
Rührung leſen oder ahnen? Die Jugend weist auf
die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬
genheit. Hat dieſe kein Recht auf unſern Antheil? Als
ich Mathilden das erſte Mal ſah, fiel mir das Bild
der verblühenden Roſe ein, welches mein Gaſtfreund
von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es ſo
treffend fand; und ſpäter oft, wenn ich Mathilden
betrachtete, geſellte ſich das Bild wieder zu meinen
Gedanken, es erregten ſich neue, und es erzeugte
ſich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal
gedacht, daß Mathilde ausſehe, wie ein Bild der Ver¬
gebung, und ſpäter dachte ich es mir öfter. Ihr An¬
geſicht mußte ſehr ſchön geweſen ſein, vielleicht gar ſo
ſchön wie jezt Nataliens, nun iſt es ganz anders;
aber es ſpricht leiſe von einer Vergangenheit, daß
wir meinen, wir müßten ſie vernehmen können, und
wir vernähmen ſie auch gerne, weil ſie uns ſo an¬
ziehend ſcheint. Sie muß manche Neigungen gehabt
haben, ſie muß manche Freuden erlebt und manches
Gut verloren haben, ſie hat Schmerzen und Kummer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/267>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.