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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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Geberden hervorbrachten, die keine Glut und keine
Innigkeit haben, weil sie der Künstler nicht hatte,
und die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil
der Künstler nicht mit der Seele arbeitete, sondern
mit irgend einer Überlegung nach eben herrschenden
Gestaltungsansichten, weßhalb er das, was ihm an
Gefühl abging, durch Unruhe und Heftigkeit des
Werkes zu ersezen suchte. Was die Sinnfälligkeit an¬
langt, so schien mir das Mittelalter nicht nach Voll¬
endung in derselben gestrebt zu haben. Neben einem
Haupte, das in seiner Einfachheit und Gegenständ¬
lichkeit trefflich und tadellos war, befinden sich wieder
Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmög¬
lich sind. Der Künstler sah dies nicht; denn er fand
den Zustand seines Gemüthes in dem Ausdrucke sei¬
nes Werkes, mehr hatte er nicht beabsichtiget, und
nach Verschmelzung des Sinnenthumes strebte er nicht,
weil es ihm, wenigstens in seiner Kunstthätigkeit,
ferne lag, und er einen Mangel nicht empfand. Da¬
rum stellt sich auch bei uns die Wirkung der Inner¬
lichkeit ein, obgleich wir unähnlich dem schaffenden
Künstler des Mittelalters die sinnlichen Mängel des
Werkes empfinden. Dies spricht um so mehr für die
Trefflichkeit der damaligen Arbeiten. Es waren recht

Geberden hervorbrachten, die keine Glut und keine
Innigkeit haben, weil ſie der Künſtler nicht hatte,
und die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil
der Künſtler nicht mit der Seele arbeitete, ſondern
mit irgend einer Überlegung nach eben herrſchenden
Geſtaltungsanſichten, weßhalb er das, was ihm an
Gefühl abging, durch Unruhe und Heftigkeit des
Werkes zu erſezen ſuchte. Was die Sinnfälligkeit an¬
langt, ſo ſchien mir das Mittelalter nicht nach Voll¬
endung in derſelben geſtrebt zu haben. Neben einem
Haupte, das in ſeiner Einfachheit und Gegenſtänd¬
lichkeit trefflich und tadellos war, befinden ſich wieder
Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmög¬
lich ſind. Der Künſtler ſah dies nicht; denn er fand
den Zuſtand ſeines Gemüthes in dem Ausdrucke ſei¬
nes Werkes, mehr hatte er nicht beabſichtiget, und
nach Verſchmelzung des Sinnenthumes ſtrebte er nicht,
weil es ihm, wenigſtens in ſeiner Kunſtthätigkeit,
ferne lag, und er einen Mangel nicht empfand. Da¬
rum ſtellt ſich auch bei uns die Wirkung der Inner¬
lichkeit ein, obgleich wir unähnlich dem ſchaffenden
Künſtler des Mittelalters die ſinnlichen Mängel des
Werkes empfinden. Dies ſpricht um ſo mehr für die
Trefflichkeit der damaligen Arbeiten. Es waren recht

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[142/0156] Geberden hervorbrachten, die keine Glut und keine Innigkeit haben, weil ſie der Künſtler nicht hatte, und die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil der Künſtler nicht mit der Seele arbeitete, ſondern mit irgend einer Überlegung nach eben herrſchenden Geſtaltungsanſichten, weßhalb er das, was ihm an Gefühl abging, durch Unruhe und Heftigkeit des Werkes zu erſezen ſuchte. Was die Sinnfälligkeit an¬ langt, ſo ſchien mir das Mittelalter nicht nach Voll¬ endung in derſelben geſtrebt zu haben. Neben einem Haupte, das in ſeiner Einfachheit und Gegenſtänd¬ lichkeit trefflich und tadellos war, befinden ſich wieder Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmög¬ lich ſind. Der Künſtler ſah dies nicht; denn er fand den Zuſtand ſeines Gemüthes in dem Ausdrucke ſei¬ nes Werkes, mehr hatte er nicht beabſichtiget, und nach Verſchmelzung des Sinnenthumes ſtrebte er nicht, weil es ihm, wenigſtens in ſeiner Kunſtthätigkeit, ferne lag, und er einen Mangel nicht empfand. Da¬ rum ſtellt ſich auch bei uns die Wirkung der Inner¬ lichkeit ein, obgleich wir unähnlich dem ſchaffenden Künſtler des Mittelalters die ſinnlichen Mängel des Werkes empfinden. Dies ſpricht um ſo mehr für die Trefflichkeit der damaligen Arbeiten. Es waren recht

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/156>, abgerufen am 24.11.2024.