Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

große Gewalt, die solche Kunstwerke auf den eben¬
mäßig gebildeten Geist ausüben, eine Gewalt, die in
ihrer Wirkung bei einem Menschen, wenn er altert,
nicht abnimmt, sondern wächst, und darum ist es für
den in der Kunst Gebildeten so wie für den völlig
Unbefangenen, wenn sein Gemüth nur überhaupt
dem Reize zugänglich ist, so leicht, solche Kunstwerke
zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beispieles für
diese meine Behauptung, welches sehr merkwürdig
ist. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬
bildern, in welchem sich ein aus weißem Marmor ver¬
fertigter auf seinem Size zurückgesunkener und schla¬
fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den
Saal, deren Tracht schließen ließ, daß sie in einem
sehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie
hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenschuhen
lag der Staub einer vielleicht erst heute Morgen voll¬
brachten Wanderung. Als sie in die Nähe des Jüng¬
lings kamen, gingen sie behutsam auf den Spizen
ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine so unmittelbare
und tiefe Anerkennung ist wohl selten einem Meister zu
Theil geworden. Wer aber in einer bestimmten Rich¬
tung befangen ist, und nur die Schönheit, die in ihr
liegt, zu fassen und zu genießen versteht, oder wer sich

große Gewalt, die ſolche Kunſtwerke auf den eben¬
mäßig gebildeten Geiſt ausüben, eine Gewalt, die in
ihrer Wirkung bei einem Menſchen, wenn er altert,
nicht abnimmt, ſondern wächſt, und darum iſt es für
den in der Kunſt Gebildeten ſo wie für den völlig
Unbefangenen, wenn ſein Gemüth nur überhaupt
dem Reize zugänglich iſt, ſo leicht, ſolche Kunſtwerke
zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beiſpieles für
dieſe meine Behauptung, welches ſehr merkwürdig
iſt. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬
bildern, in welchem ſich ein aus weißem Marmor ver¬
fertigter auf ſeinem Size zurückgeſunkener und ſchla¬
fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den
Saal, deren Tracht ſchließen ließ, daß ſie in einem
ſehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie
hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenſchuhen
lag der Staub einer vielleicht erſt heute Morgen voll¬
brachten Wanderung. Als ſie in die Nähe des Jüng¬
lings kamen, gingen ſie behutſam auf den Spizen
ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine ſo unmittelbare
und tiefe Anerkennung iſt wohl ſelten einem Meiſter zu
Theil geworden. Wer aber in einer beſtimmten Rich¬
tung befangen iſt, und nur die Schönheit, die in ihr
liegt, zu faſſen und zu genießen verſteht, oder wer ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0141" n="127"/>
große Gewalt, die &#x017F;olche Kun&#x017F;twerke auf den eben¬<lb/>
mäßig gebildeten Gei&#x017F;t ausüben, eine Gewalt, die in<lb/>
ihrer Wirkung bei einem Men&#x017F;chen, wenn er altert,<lb/>
nicht abnimmt, &#x017F;ondern wäch&#x017F;t, und darum i&#x017F;t es für<lb/>
den in der Kun&#x017F;t Gebildeten &#x017F;o wie für den völlig<lb/>
Unbefangenen, wenn &#x017F;ein Gemüth nur überhaupt<lb/>
dem Reize zugänglich i&#x017F;t, &#x017F;o leicht, &#x017F;olche Kun&#x017F;twerke<lb/>
zu erkennen. Ich erinnere mich eines Bei&#x017F;pieles für<lb/>
die&#x017F;e meine Behauptung, welches &#x017F;ehr merkwürdig<lb/>
i&#x017F;t. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬<lb/>
bildern, in welchem &#x017F;ich ein aus weißem Marmor ver¬<lb/>
fertigter auf &#x017F;einem Size zurückge&#x017F;unkener und &#x017F;chla¬<lb/>
fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den<lb/>
Saal, deren Tracht &#x017F;chließen ließ, daß &#x017F;ie in einem<lb/>
&#x017F;ehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie<lb/>
hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallen&#x017F;chuhen<lb/>
lag der Staub einer vielleicht er&#x017F;t heute Morgen voll¬<lb/>
brachten Wanderung. Als &#x017F;ie in die Nähe des Jüng¬<lb/>
lings kamen, gingen &#x017F;ie behut&#x017F;am auf den Spizen<lb/>
ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine &#x017F;o unmittelbare<lb/>
und tiefe Anerkennung i&#x017F;t wohl &#x017F;elten einem Mei&#x017F;ter zu<lb/>
Theil geworden. Wer aber in einer be&#x017F;timmten Rich¬<lb/>
tung befangen i&#x017F;t, und nur die Schönheit, die in ihr<lb/>
liegt, zu fa&#x017F;&#x017F;en und zu genießen ver&#x017F;teht, oder wer &#x017F;ich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0141] große Gewalt, die ſolche Kunſtwerke auf den eben¬ mäßig gebildeten Geiſt ausüben, eine Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menſchen, wenn er altert, nicht abnimmt, ſondern wächſt, und darum iſt es für den in der Kunſt Gebildeten ſo wie für den völlig Unbefangenen, wenn ſein Gemüth nur überhaupt dem Reize zugänglich iſt, ſo leicht, ſolche Kunſtwerke zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beiſpieles für dieſe meine Behauptung, welches ſehr merkwürdig iſt. Ich war einmal in einem Saale von alten Stand¬ bildern, in welchem ſich ein aus weißem Marmor ver¬ fertigter auf ſeinem Size zurückgeſunkener und ſchla¬ fender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht ſchließen ließ, daß ſie in einem ſehr entfernten Theile des Landes wohnten. Sie hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenſchuhen lag der Staub einer vielleicht erſt heute Morgen voll¬ brachten Wanderung. Als ſie in die Nähe des Jüng¬ lings kamen, gingen ſie behutſam auf den Spizen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine ſo unmittelbare und tiefe Anerkennung iſt wohl ſelten einem Meiſter zu Theil geworden. Wer aber in einer beſtimmten Rich¬ tung befangen iſt, und nur die Schönheit, die in ihr liegt, zu faſſen und zu genießen verſteht, oder wer ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/141
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/141>, abgerufen am 22.11.2024.