Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Erinnerung. Darum also war mir Natalie immer als
schon einmal gesehen vorgeschwebt. Ich hatte ja so¬
gar damals gedacht, daß das menschliche Angesicht
etwa der edelste Gegenstand für die Zeichnungskunst
sein dürfte, und hatte sie als unbeholfner Mensch, der
im Zurechtlegen aller Eindrücke geschickter ist als in dem
der menschlichen, doch wieder aus meiner Vorstellungs¬
kraft verloren. Ich sagte zu meinem Gastfreunde, daß
er durch seine Bemerkung meinem Gedächtnisse zu
Hilfe gekommen sei, daß ich jezt alles klar wisse, und
daß mir auf dieser Anhöhe Mathilde und Natalie be¬
gegnet seien, und daß ich ihnen, da der Wagen lang¬
sam den Berg hinab fuhr, nachgesehen habe.

"Ich habe mir es gleich so gedacht," erwiederte er.

Aber auch etwas anderes fiel mir ein, und machte,
daß mein Angesicht erröthete. Also hatte mein Gast¬
freund von mir mit den Frauen gesprochen, und mich
sogar beschrieben. Er hatte also einen Antheil an mir
genommen. Das freute mich von diesem Manne sehr.

Als wir auf der Höhe des Berges angekommen
waren, ließ mein Gastfreund an einer Stelle, wo das
Seitengebüsch des Weges eine Durchsicht erlaubte,
halten, stand im Wagen auf, und bath mich, das
Gleiche zu thun. Er sagte, daß man an dieser Stelle

29 *

Erinnerung. Darum alſo war mir Natalie immer als
ſchon einmal geſehen vorgeſchwebt. Ich hatte ja ſo¬
gar damals gedacht, daß das menſchliche Angeſicht
etwa der edelſte Gegenſtand für die Zeichnungskunſt
ſein dürfte, und hatte ſie als unbeholfner Menſch, der
im Zurechtlegen aller Eindrücke geſchickter iſt als in dem
der menſchlichen, doch wieder aus meiner Vorſtellungs¬
kraft verloren. Ich ſagte zu meinem Gaſtfreunde, daß
er durch ſeine Bemerkung meinem Gedächtniſſe zu
Hilfe gekommen ſei, daß ich jezt alles klar wiſſe, und
daß mir auf dieſer Anhöhe Mathilde und Natalie be¬
gegnet ſeien, und daß ich ihnen, da der Wagen lang¬
ſam den Berg hinab fuhr, nachgeſehen habe.

„Ich habe mir es gleich ſo gedacht,“ erwiederte er.

Aber auch etwas anderes fiel mir ein, und machte,
daß mein Angeſicht erröthete. Alſo hatte mein Gaſt¬
freund von mir mit den Frauen geſprochen, und mich
ſogar beſchrieben. Er hatte alſo einen Antheil an mir
genommen. Das freute mich von dieſem Manne ſehr.

Als wir auf der Höhe des Berges angekommen
waren, ließ mein Gaſtfreund an einer Stelle, wo das
Seitengebüſch des Weges eine Durchſicht erlaubte,
halten, ſtand im Wagen auf, und bath mich, das
Gleiche zu thun. Er ſagte, daß man an dieſer Stelle

29 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0465" n="451"/>
Erinnerung. Darum al&#x017F;o war mir Natalie immer als<lb/>
&#x017F;chon einmal ge&#x017F;ehen vorge&#x017F;chwebt. Ich hatte ja &#x017F;<lb/>
gar damals gedacht, daß das men&#x017F;chliche Ange&#x017F;icht<lb/>
etwa der edel&#x017F;te Gegen&#x017F;tand für die Zeichnungskun&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ein dürfte, und hatte &#x017F;ie als unbeholfner Men&#x017F;ch, der<lb/>
im Zurechtlegen aller Eindrücke ge&#x017F;chickter i&#x017F;t als in dem<lb/>
der men&#x017F;chlichen, doch wieder aus meiner Vor&#x017F;tellungs¬<lb/>
kraft verloren. Ich &#x017F;agte zu meinem Ga&#x017F;tfreunde, daß<lb/>
er durch &#x017F;eine Bemerkung meinem Gedächtni&#x017F;&#x017F;e zu<lb/>
Hilfe gekommen &#x017F;ei, daß ich jezt alles klar wi&#x017F;&#x017F;e, und<lb/>
daß mir auf die&#x017F;er Anhöhe Mathilde und Natalie be¬<lb/>
gegnet &#x017F;eien, und daß ich ihnen, da der Wagen lang¬<lb/>
&#x017F;am den Berg hinab fuhr, nachge&#x017F;ehen habe.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich habe mir es gleich &#x017F;o gedacht,&#x201C; erwiederte er.</p><lb/>
        <p>Aber auch etwas anderes fiel mir ein, und machte,<lb/>
daß mein Ange&#x017F;icht erröthete. Al&#x017F;o hatte mein Ga&#x017F;<lb/>
freund von mir mit den Frauen ge&#x017F;prochen, und mich<lb/>
&#x017F;ogar be&#x017F;chrieben. Er hatte al&#x017F;o einen Antheil an mir<lb/>
genommen. Das freute mich von die&#x017F;em Manne &#x017F;ehr.</p><lb/>
        <p>Als wir auf der Höhe des Berges angekommen<lb/>
waren, ließ mein Ga&#x017F;tfreund an einer Stelle, wo das<lb/>
Seitengebü&#x017F;ch des Weges eine Durch&#x017F;icht erlaubte,<lb/>
halten, &#x017F;tand im Wagen auf, und bath mich, das<lb/>
Gleiche zu thun. Er &#x017F;agte, daß man an die&#x017F;er Stelle<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">29 *<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[451/0465] Erinnerung. Darum alſo war mir Natalie immer als ſchon einmal geſehen vorgeſchwebt. Ich hatte ja ſo¬ gar damals gedacht, daß das menſchliche Angeſicht etwa der edelſte Gegenſtand für die Zeichnungskunſt ſein dürfte, und hatte ſie als unbeholfner Menſch, der im Zurechtlegen aller Eindrücke geſchickter iſt als in dem der menſchlichen, doch wieder aus meiner Vorſtellungs¬ kraft verloren. Ich ſagte zu meinem Gaſtfreunde, daß er durch ſeine Bemerkung meinem Gedächtniſſe zu Hilfe gekommen ſei, daß ich jezt alles klar wiſſe, und daß mir auf dieſer Anhöhe Mathilde und Natalie be¬ gegnet ſeien, und daß ich ihnen, da der Wagen lang¬ ſam den Berg hinab fuhr, nachgeſehen habe. „Ich habe mir es gleich ſo gedacht,“ erwiederte er. Aber auch etwas anderes fiel mir ein, und machte, daß mein Angeſicht erröthete. Alſo hatte mein Gaſt¬ freund von mir mit den Frauen geſprochen, und mich ſogar beſchrieben. Er hatte alſo einen Antheil an mir genommen. Das freute mich von dieſem Manne ſehr. Als wir auf der Höhe des Berges angekommen waren, ließ mein Gaſtfreund an einer Stelle, wo das Seitengebüſch des Weges eine Durchſicht erlaubte, halten, ſtand im Wagen auf, und bath mich, das Gleiche zu thun. Er ſagte, daß man an dieſer Stelle 29 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/465
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/465>, abgerufen am 22.11.2024.