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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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nen ich geladen war, oder selbst zu Spaziergängen
und Geschäftsbesuchen war mir meine Wohnung wie
eine holde bedeutungsvolle Einsamkeit, die mir noch
lieber wurde, weil ihre Fenster auf Gärten und wenig
geräuschvolle Gegenden hinausgingen.

Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer grö¬
ßer, je näher der Winter seinem Ende zuging, und
ich hatte in dieser Hinsicht und oft auch in anderer
mehr Ursache und Pflicht zu dieser oder jener Familie
einen Gang zu thun.

Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit
mir ein Vorfall, der mich nach dem Beiwohnen bei
der Aufführung des Lear in jenem Winter am meisten
beschäftigte.

Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr
befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war
die Wittwe und Tochter eines berühmten Mannes,
der einmal in großem Ansehen gestanden war. Da
der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte,
wurde die Tochter nach seinem Tode auch ein Hof¬
fräulein, weßhalb sie mit der Mutter in der Burg
wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee,
der andere bei einer Gesandtschaft. Wenn das Fräu¬
lein nicht eben im Dienste war, wurde zuweilen

nen ich geladen war, oder ſelbſt zu Spaziergängen
und Geſchäftsbeſuchen war mir meine Wohnung wie
eine holde bedeutungsvolle Einſamkeit, die mir noch
lieber wurde, weil ihre Fenſter auf Gärten und wenig
geräuſchvolle Gegenden hinausgingen.

Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer grö¬
ßer, je näher der Winter ſeinem Ende zuging, und
ich hatte in dieſer Hinſicht und oft auch in anderer
mehr Urſache und Pflicht zu dieſer oder jener Familie
einen Gang zu thun.

Bei einer ſolchen Gelegenheit ereignete ſich mit
mir ein Vorfall, der mich nach dem Beiwohnen bei
der Aufführung des Lear in jenem Winter am meiſten
beſchäftigte.

Wir waren ſeit Jahren mit einer Familie ſehr
befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war
die Wittwe und Tochter eines berühmten Mannes,
der einmal in großem Anſehen geſtanden war. Da
der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte,
wurde die Tochter nach ſeinem Tode auch ein Hof¬
fräulein, weßhalb ſie mit der Mutter in der Burg
wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee,
der andere bei einer Geſandtſchaft. Wenn das Fräu¬
lein nicht eben im Dienſte war, wurde zuweilen

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[312/0326] nen ich geladen war, oder ſelbſt zu Spaziergängen und Geſchäftsbeſuchen war mir meine Wohnung wie eine holde bedeutungsvolle Einſamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre Fenſter auf Gärten und wenig geräuſchvolle Gegenden hinausgingen. Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer grö¬ ßer, je näher der Winter ſeinem Ende zuging, und ich hatte in dieſer Hinſicht und oft auch in anderer mehr Urſache und Pflicht zu dieſer oder jener Familie einen Gang zu thun. Bei einer ſolchen Gelegenheit ereignete ſich mit mir ein Vorfall, der mich nach dem Beiwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am meiſten beſchäftigte. Wir waren ſeit Jahren mit einer Familie ſehr befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines berühmten Mannes, der einmal in großem Anſehen geſtanden war. Da der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach ſeinem Tode auch ein Hof¬ fräulein, weßhalb ſie mit der Mutter in der Burg wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer Geſandtſchaft. Wenn das Fräu¬ lein nicht eben im Dienſte war, wurde zuweilen

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/326>, abgerufen am 25.08.2024.