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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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nichts mehr als die Worte: Lear! Lear! Lear! aber
in diesem einzigen Worte liegt seine ganze vergangene
Geschichte und liegen seine ganzen gegenwärtigen Ge¬
fühle. Er wirft sich später dem Narren an die Brust,
und ruft mit Angst: Narr, Narr! ich werde rasend --
ich möchte nicht rasend werden -- nur nicht toll! Da
er die drei lezten Worte milder sagte, gleichsam bit¬
tend, so flossen mir die Thränen über die Wangen
herab, ich vergaß die Menschen herum, und glaubte
die Handlung als eben geschehend. Ich stand, und
sah unverwandt auf die Bühne. Der König wird
nun wirklich toll, er kränzt sich in den Tagen nach
jener Sturmnacht mit Blumen, schwärmt auf den
Hügeln und Haiden, und hält mit Bettlern einen
hohen Gerichtshof. Es ist indessen schon Botschaft
an seine Tochter Cordelia gethan worden, daß Regan
und Goneril den Vater schnöd behandeln. Diese war
mit Heeresmacht gekommen, um ihn zu retten. Man
hatte ihn auf der Haide gefunden, und er liegt nun
im Zelte Cordelias, und schläft. Während der lezten
Zeit ist er in sich zusammengesunken, er ist, während
wir ihn so vor uns sahen, immer älter, ja gleichsam
kleiner geworden. Er hatte lange geschlafen, der Arzt
glaubt, daß der Zustand der Geisteszerrüttung nur in

nichts mehr als die Worte: Lear! Lear! Lear! aber
in dieſem einzigen Worte liegt ſeine ganze vergangene
Geſchichte und liegen ſeine ganzen gegenwärtigen Ge¬
fühle. Er wirft ſich ſpäter dem Narren an die Bruſt,
und ruft mit Angſt: Narr, Narr! ich werde raſend —
ich möchte nicht raſend werden — nur nicht toll! Da
er die drei lezten Worte milder ſagte, gleichſam bit¬
tend, ſo floſſen mir die Thränen über die Wangen
herab, ich vergaß die Menſchen herum, und glaubte
die Handlung als eben geſchehend. Ich ſtand, und
ſah unverwandt auf die Bühne. Der König wird
nun wirklich toll, er kränzt ſich in den Tagen nach
jener Sturmnacht mit Blumen, ſchwärmt auf den
Hügeln und Haiden, und hält mit Bettlern einen
hohen Gerichtshof. Es iſt indeſſen ſchon Botſchaft
an ſeine Tochter Cordelia gethan worden, daß Regan
und Goneril den Vater ſchnöd behandeln. Dieſe war
mit Heeresmacht gekommen, um ihn zu retten. Man
hatte ihn auf der Haide gefunden, und er liegt nun
im Zelte Cordelias, und ſchläft. Während der lezten
Zeit iſt er in ſich zuſammengeſunken, er iſt, während
wir ihn ſo vor uns ſahen, immer älter, ja gleichſam
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[303/0317] nichts mehr als die Worte: Lear! Lear! Lear! aber in dieſem einzigen Worte liegt ſeine ganze vergangene Geſchichte und liegen ſeine ganzen gegenwärtigen Ge¬ fühle. Er wirft ſich ſpäter dem Narren an die Bruſt, und ruft mit Angſt: Narr, Narr! ich werde raſend — ich möchte nicht raſend werden — nur nicht toll! Da er die drei lezten Worte milder ſagte, gleichſam bit¬ tend, ſo floſſen mir die Thränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menſchen herum, und glaubte die Handlung als eben geſchehend. Ich ſtand, und ſah unverwandt auf die Bühne. Der König wird nun wirklich toll, er kränzt ſich in den Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, ſchwärmt auf den Hügeln und Haiden, und hält mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es iſt indeſſen ſchon Botſchaft an ſeine Tochter Cordelia gethan worden, daß Regan und Goneril den Vater ſchnöd behandeln. Dieſe war mit Heeresmacht gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und er liegt nun im Zelte Cordelias, und ſchläft. Während der lezten Zeit iſt er in ſich zuſammengeſunken, er iſt, während wir ihn ſo vor uns ſahen, immer älter, ja gleichſam kleiner geworden. Er hatte lange geſchlafen, der Arzt glaubt, daß der Zuſtand der Geiſteszerrüttung nur in

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/317>, abgerufen am 22.07.2024.