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Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

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Der tirolische Clerus geht zum größern Theile aus dem Bauernstande hervor. Die Aussicht auf frühe Sicherung des Lebensunterhaltes läßt den Söhnen armer Eltern, falls sie studiren wollen, kaum eine andre Wahl. Sie erhalten sich am Gymnasium - als "Lotterstudenten" - durch Freitische und Wohlthaten der Stadtleute, gehen dann nach Innsbruck um an der Universität den philosophischen Cursus durchzumachen, und bleiben zuletzt vier Jahre in einem der Seminare zu Brixen und Trient. Wer die Einrichtung der österreichischen Schulen kennt - und nach dem Vielen, was man darüber veröffentlicht hat, ist dieß Urtheil nicht mehr schwierig - der wird selbst berechnen können, wie weit ihre Ausbildung auf diesem Wege gedeihen mag.

Den tiefen Zug von Gutmüthigkeit und Wohlwollen, der durch den tirolischen Charakter geht, finden wir auch in dem Priester wieder, und die Lage, in der die meisten leben, gibt ihnen auch Anlaß genug, ihre Menschenfreundlichkeit in schwerer Selbstverläugnung zu üben. Die Beschwerlichkeiten einer Seelsorge in den Bergdörfern haben wir an einem andern Orte zu schildern gesucht. Arm und einsam verlebt der Curat die schönsten Jahre seines Lebens und wird dadurch nicht weniger als durch Andacht und Gebet gelehrt, von der Welt sich abzuwenden und alle seine Hoffnungen auf ein besseres Jenseits zu stellen, dessen er sich und seine Gemeinde immer würdiger zu machen sucht. Fremdartiges, Weltliches, Zerstreuendes strebt er als Versuchung abzuwehren, und sein Vorbild ist weniger das Ringen nach wissenschaftlicher Vervollkommnung als nach stiller Erbauung und Beschaulichkeit. Um Bücher zu kaufen, fehlen alle Mittel, und so geht zuletzt auch die Schätzung ihres Werthes verloren. Von dem Daseyn einer deutschen Literatur, von der Nothwendigkeit sie zu kennen, findet man kaum eine Ahnung. Die classischen Studien werden durch das Brevier ersetzt, das ja auch lateinisch ist. Nur wohlhabende Decane lesen "Journäler," verstehe Sion und die Postzeitung. So kann man denn, wenn man sich nicht vor etwas scharfen Worten scheut, auf den tirolischen Clerus ungefähr dasselbe anwenden, was vor nicht langer Zeit von dem

Der tirolische Clerus geht zum größern Theile aus dem Bauernstande hervor. Die Aussicht auf frühe Sicherung des Lebensunterhaltes läßt den Söhnen armer Eltern, falls sie studiren wollen, kaum eine andre Wahl. Sie erhalten sich am Gymnasium – als „Lotterstudenten" – durch Freitische und Wohlthaten der Stadtleute, gehen dann nach Innsbruck um an der Universität den philosophischen Cursus durchzumachen, und bleiben zuletzt vier Jahre in einem der Seminare zu Brixen und Trient. Wer die Einrichtung der österreichischen Schulen kennt – und nach dem Vielen, was man darüber veröffentlicht hat, ist dieß Urtheil nicht mehr schwierig – der wird selbst berechnen können, wie weit ihre Ausbildung auf diesem Wege gedeihen mag.

Den tiefen Zug von Gutmüthigkeit und Wohlwollen, der durch den tirolischen Charakter geht, finden wir auch in dem Priester wieder, und die Lage, in der die meisten leben, gibt ihnen auch Anlaß genug, ihre Menschenfreundlichkeit in schwerer Selbstverläugnung zu üben. Die Beschwerlichkeiten einer Seelsorge in den Bergdörfern haben wir an einem andern Orte zu schildern gesucht. Arm und einsam verlebt der Curat die schönsten Jahre seines Lebens und wird dadurch nicht weniger als durch Andacht und Gebet gelehrt, von der Welt sich abzuwenden und alle seine Hoffnungen auf ein besseres Jenseits zu stellen, dessen er sich und seine Gemeinde immer würdiger zu machen sucht. Fremdartiges, Weltliches, Zerstreuendes strebt er als Versuchung abzuwehren, und sein Vorbild ist weniger das Ringen nach wissenschaftlicher Vervollkommnung als nach stiller Erbauung und Beschaulichkeit. Um Bücher zu kaufen, fehlen alle Mittel, und so geht zuletzt auch die Schätzung ihres Werthes verloren. Von dem Daseyn einer deutschen Literatur, von der Nothwendigkeit sie zu kennen, findet man kaum eine Ahnung. Die classischen Studien werden durch das Brevier ersetzt, das ja auch lateinisch ist. Nur wohlhabende Decane lesen „Journäler,“ verstehe Sion und die Postzeitung. So kann man denn, wenn man sich nicht vor etwas scharfen Worten scheut, auf den tirolischen Clerus ungefähr dasselbe anwenden, was vor nicht langer Zeit von dem

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[645/0649] Der tirolische Clerus geht zum größern Theile aus dem Bauernstande hervor. Die Aussicht auf frühe Sicherung des Lebensunterhaltes läßt den Söhnen armer Eltern, falls sie studiren wollen, kaum eine andre Wahl. Sie erhalten sich am Gymnasium – als „Lotterstudenten" – durch Freitische und Wohlthaten der Stadtleute, gehen dann nach Innsbruck um an der Universität den philosophischen Cursus durchzumachen, und bleiben zuletzt vier Jahre in einem der Seminare zu Brixen und Trient. Wer die Einrichtung der österreichischen Schulen kennt – und nach dem Vielen, was man darüber veröffentlicht hat, ist dieß Urtheil nicht mehr schwierig – der wird selbst berechnen können, wie weit ihre Ausbildung auf diesem Wege gedeihen mag. Den tiefen Zug von Gutmüthigkeit und Wohlwollen, der durch den tirolischen Charakter geht, finden wir auch in dem Priester wieder, und die Lage, in der die meisten leben, gibt ihnen auch Anlaß genug, ihre Menschenfreundlichkeit in schwerer Selbstverläugnung zu üben. Die Beschwerlichkeiten einer Seelsorge in den Bergdörfern haben wir an einem andern Orte zu schildern gesucht. Arm und einsam verlebt der Curat die schönsten Jahre seines Lebens und wird dadurch nicht weniger als durch Andacht und Gebet gelehrt, von der Welt sich abzuwenden und alle seine Hoffnungen auf ein besseres Jenseits zu stellen, dessen er sich und seine Gemeinde immer würdiger zu machen sucht. Fremdartiges, Weltliches, Zerstreuendes strebt er als Versuchung abzuwehren, und sein Vorbild ist weniger das Ringen nach wissenschaftlicher Vervollkommnung als nach stiller Erbauung und Beschaulichkeit. Um Bücher zu kaufen, fehlen alle Mittel, und so geht zuletzt auch die Schätzung ihres Werthes verloren. Von dem Daseyn einer deutschen Literatur, von der Nothwendigkeit sie zu kennen, findet man kaum eine Ahnung. Die classischen Studien werden durch das Brevier ersetzt, das ja auch lateinisch ist. Nur wohlhabende Decane lesen „Journäler,“ verstehe Sion und die Postzeitung. So kann man denn, wenn man sich nicht vor etwas scharfen Worten scheut, auf den tirolischen Clerus ungefähr dasselbe anwenden, was vor nicht langer Zeit von dem

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Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/649>, abgerufen am 23.11.2024.