Marigret. Wenn indessen bei den Taufnamen der Artikel wegbleibt, so wird er dagegen bei den Ortsnamen durchweg angewendet und man sagt z. B. im Schrecken, in der Au, in der Rüti (Reute), am Schwarzenberg, an der Egg.
Gegen alle und jegliche Titel herrscht eine entschiedene Abneigung. Die Männer heißen nicht Herren, die Weiber nicht Frauen und die Mädchen nicht einmal Jungfern - alle werden nur mit dem Taufnamen angeredet. Peter, wie geht's? sagt der mindeste der Wälder zu Herrn Bilgeri von Andelsbuch, und der Herr Landammann heißt im ganzen Walde nicht anders als Sepple.
Die Wälder singen keine Lieder eigener Dichtung; es blüht hier keine Volkspoesie. Einzelne Gedichte, die in der Mundart des Thales vorhanden, sind von studirten Leuten gefertigt, nur als Sprachproben, als Versuche, die Wäldersprache poetisch zu verwenden. Ein derartiges "Weihnachtsgedicht" verdankt man dem Herrn Custos Bergmann, und es ist dasselbe in dem dritten Band der Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg abgedruckt, als Anhang einer hier oben öfter benützten Abhandlung über die Volkssprache im äußern Bregenzerwalde. Ein anderes in 36 Strophen findet sich in K. W. Vogts Belvedere der Hochlande (Augsburg 1841). Es wird einem jetzt in Mainz lebenden vorarlbergischen Geistlichen zugeschrieben. Leider ist die Sprache desselben von solcher Beschaffenheit, daß sie selbst den Wäldern großentheils unverständlich bleibt. Dem Volke ist das eine so wenig bekannt geworden wie das andere. Es wird überhaupt nicht viel gesungen, und dann immer nur nach hochdeutschen Texten. Bei Schnepfau hörte ich freilich an einem stillen Sommerabende in dem Schopf mit leiser Stimme summen:
Am Obed han is kußt - Es thuet mer jetz no wohl. O, hatt' i's künne denka, Es si zum letzte Mol - O je, o je >I kuß es numme meh.
Marigret. Wenn indessen bei den Taufnamen der Artikel wegbleibt, so wird er dagegen bei den Ortsnamen durchweg angewendet und man sagt z. B. im Schrecken, in der Au, in der Rüti (Reute), am Schwarzenberg, an der Egg.
Gegen alle und jegliche Titel herrscht eine entschiedene Abneigung. Die Männer heißen nicht Herren, die Weiber nicht Frauen und die Mädchen nicht einmal Jungfern – alle werden nur mit dem Taufnamen angeredet. Peter, wie geht’s? sagt der mindeste der Wälder zu Herrn Bilgeri von Andelsbuch, und der Herr Landammann heißt im ganzen Walde nicht anders als Sepple.
Die Wälder singen keine Lieder eigener Dichtung; es blüht hier keine Volkspoesie. Einzelne Gedichte, die in der Mundart des Thales vorhanden, sind von studirten Leuten gefertigt, nur als Sprachproben, als Versuche, die Wäldersprache poetisch zu verwenden. Ein derartiges „Weihnachtsgedicht" verdankt man dem Herrn Custos Bergmann, und es ist dasselbe in dem dritten Band der Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg abgedruckt, als Anhang einer hier oben öfter benützten Abhandlung über die Volkssprache im äußern Bregenzerwalde. Ein anderes in 36 Strophen findet sich in K. W. Vogts Belvedere der Hochlande (Augsburg 1841). Es wird einem jetzt in Mainz lebenden vorarlbergischen Geistlichen zugeschrieben. Leider ist die Sprache desselben von solcher Beschaffenheit, daß sie selbst den Wäldern großentheils unverständlich bleibt. Dem Volke ist das eine so wenig bekannt geworden wie das andere. Es wird überhaupt nicht viel gesungen, und dann immer nur nach hochdeutschen Texten. Bei Schnepfau hörte ich freilich an einem stillen Sommerabende in dem Schopf mit leiser Stimme summen:
Am Obed han is kußt – Es thuet mer jetz no wohl. O, hatt’ i’s künne denka, Es si zum letzte Mol – O je, o je >I kuß es numme meh.
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Marigret. Wenn indessen bei den Taufnamen der Artikel wegbleibt, so wird er dagegen bei den Ortsnamen durchweg angewendet und man sagt z. B. im Schrecken, in der Au, in der Rüti (Reute), am Schwarzenberg, an der Egg.</p><p>Gegen alle und jegliche Titel herrscht eine entschiedene Abneigung. Die Männer heißen nicht Herren, die Weiber nicht Frauen und die Mädchen nicht einmal Jungfern – alle werden nur mit dem Taufnamen angeredet. Peter, wie geht’s? sagt der mindeste der Wälder zu Herrn Bilgeri von Andelsbuch, und der Herr Landammann heißt im ganzen Walde nicht anders als <hirendition="#g">Sepple</hi>.</p><p>Die Wälder singen keine Lieder eigener Dichtung; es blüht hier keine Volkspoesie. Einzelne Gedichte, die in der Mundart des Thales vorhanden, sind von studirten Leuten gefertigt, nur als Sprachproben, als Versuche, die Wäldersprache poetisch zu verwenden. Ein derartiges „Weihnachtsgedicht" verdankt man dem Herrn Custos Bergmann, und es ist dasselbe in dem dritten Band der Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg abgedruckt, als Anhang einer hier oben öfter benützten Abhandlung über die Volkssprache im äußern Bregenzerwalde. Ein anderes in 36 Strophen findet sich in K. W. Vogts Belvedere der Hochlande (Augsburg 1841). Es wird einem jetzt in Mainz lebenden vorarlbergischen Geistlichen zugeschrieben. Leider ist die Sprache desselben von solcher Beschaffenheit, daß sie selbst den Wäldern großentheils unverständlich bleibt. Dem Volke ist das eine so wenig bekannt geworden wie das andere. Es wird überhaupt nicht viel gesungen, und dann immer nur nach hochdeutschen Texten. Bei Schnepfau hörte ich freilich an einem stillen Sommerabende in dem Schopf mit leiser Stimme summen:</p><lgtype="poem"><l>Am Obed han is kußt –</l><lb/><l>Es thuet mer jetz no wohl.</l><lb/><l>O, hatt’ i’s künne denka,</l><lb/><l>Es si zum letzte Mol –</l><lb/><l> O je, o je</l><lb/><l>>I kuß es numme meh.</l><lb/></lg></div></body></text></TEI>
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Marigret. Wenn indessen bei den Taufnamen der Artikel wegbleibt, so wird er dagegen bei den Ortsnamen durchweg angewendet und man sagt z. B. im Schrecken, in der Au, in der Rüti (Reute), am Schwarzenberg, an der Egg.
Gegen alle und jegliche Titel herrscht eine entschiedene Abneigung. Die Männer heißen nicht Herren, die Weiber nicht Frauen und die Mädchen nicht einmal Jungfern – alle werden nur mit dem Taufnamen angeredet. Peter, wie geht’s? sagt der mindeste der Wälder zu Herrn Bilgeri von Andelsbuch, und der Herr Landammann heißt im ganzen Walde nicht anders als Sepple.
Die Wälder singen keine Lieder eigener Dichtung; es blüht hier keine Volkspoesie. Einzelne Gedichte, die in der Mundart des Thales vorhanden, sind von studirten Leuten gefertigt, nur als Sprachproben, als Versuche, die Wäldersprache poetisch zu verwenden. Ein derartiges „Weihnachtsgedicht" verdankt man dem Herrn Custos Bergmann, und es ist dasselbe in dem dritten Band der Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg abgedruckt, als Anhang einer hier oben öfter benützten Abhandlung über die Volkssprache im äußern Bregenzerwalde. Ein anderes in 36 Strophen findet sich in K. W. Vogts Belvedere der Hochlande (Augsburg 1841). Es wird einem jetzt in Mainz lebenden vorarlbergischen Geistlichen zugeschrieben. Leider ist die Sprache desselben von solcher Beschaffenheit, daß sie selbst den Wäldern großentheils unverständlich bleibt. Dem Volke ist das eine so wenig bekannt geworden wie das andere. Es wird überhaupt nicht viel gesungen, und dann immer nur nach hochdeutschen Texten. Bei Schnepfau hörte ich freilich an einem stillen Sommerabende in dem Schopf mit leiser Stimme summen:
Am Obed han is kußt –
Es thuet mer jetz no wohl.
O, hatt’ i’s künne denka,
Es si zum letzte Mol –
O je, o je
>I kuß es numme meh.
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Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/56>, abgerufen am 24.07.2024.
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