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Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

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Wenn man sich nun erkundigt, wie das innere Leben Mariens während ihrer Verzückungen beschaffen sey, erfährt man "daß sie sich, nach Görres' Worten, mit einer fortlaufenden innern Anschauung des Lebens und Leidens Christi, mit Anbetung des heiligen Altarsacraments und mit einem wohlgeregelten, betrachtenden Gebete nach der Ordnung des Kirchenjahres beschäftige." Am Donnerstage und Freitage folgt sie der Leidensgeschichte und am letztern Tage um drei Uhr tritt der ecstatische Todeskampf ein, der in der christlichen Mystik beschrieben ist. Ein fröhliches Begängniß wird der heiligen Zeit um Weihnachten zu Theil, wo Marie laut jubelt über die Geburt des Herrn und das Kindlein mit den Armen freudig wiegt; auch geht es lustig zu, wenn die Hochzeit zu Cana gefeiert wird. Dann jubilirt sie mit den Hochzeitgästen und gibt durch freudenvolle Gebärden ihre mystische Theilnahme an dem biblischen Vorgange zu erkennen.

Auffallend war, daß der Zustand des Fräuleins bald nach seiner Epiphanie endemisch zu werden drohte. Ueberall in der Runde standen Mädchen auf, die von der tentatio diabolica zu leiden haben wollten und daraus als Heilige hervorzugehen gedachten. Von den Frommen zu Bozen wurde die hysterische Legion besonders gehätschelt, als eine Gnade des Himmels, der das gottselige Etschland vor allen andern Ländern auszeichnen wolle. Man muß der Geistlichkeit die Anerkennung zollen, daß ihr diese Ehre zu groß schien. Sie trat zweifelnd dazwischen und verwies die Aspirantinnen an die Aerzte. Manche gaben dann die Sache wieder auf; andre siechen noch jetzt ohne Nimbus fort. Die bedeutendste dieser unächten Nebensonnen war die Heilige von Tscherms, einem Dörfchen bei Löwenberg. Sie war die Pflegetochter eines wohlhabenden Bauern und fühlte die Gnade zuerst im Jahre 1836. In ihrem Beichtvater, dem Curaten, fand sie endlich den Gönner, der ihren Zustand zur Kenntniß der Christenheit brachte. Im Jahre darauf zeigte sich die Gabe der Weissagung; damit wuchs auch die Berühmtheit und der Besuch. Der Geistlichkeit der Nachbarschaft mißfiel jedoch das Verhältniß der heiligen Jungfrau zu ihrem Gewissensrath.

Wenn man sich nun erkundigt, wie das innere Leben Mariens während ihrer Verzückungen beschaffen sey, erfährt man „daß sie sich, nach Görres’ Worten, mit einer fortlaufenden innern Anschauung des Lebens und Leidens Christi, mit Anbetung des heiligen Altarsacraments und mit einem wohlgeregelten, betrachtenden Gebete nach der Ordnung des Kirchenjahres beschäftige.“ Am Donnerstage und Freitage folgt sie der Leidensgeschichte und am letztern Tage um drei Uhr tritt der ecstatische Todeskampf ein, der in der christlichen Mystik beschrieben ist. Ein fröhliches Begängniß wird der heiligen Zeit um Weihnachten zu Theil, wo Marie laut jubelt über die Geburt des Herrn und das Kindlein mit den Armen freudig wiegt; auch geht es lustig zu, wenn die Hochzeit zu Cana gefeiert wird. Dann jubilirt sie mit den Hochzeitgästen und gibt durch freudenvolle Gebärden ihre mystische Theilnahme an dem biblischen Vorgange zu erkennen.

Auffallend war, daß der Zustand des Fräuleins bald nach seiner Epiphanie endemisch zu werden drohte. Ueberall in der Runde standen Mädchen auf, die von der tentatio diabolica zu leiden haben wollten und daraus als Heilige hervorzugehen gedachten. Von den Frommen zu Bozen wurde die hysterische Legion besonders gehätschelt, als eine Gnade des Himmels, der das gottselige Etschland vor allen andern Ländern auszeichnen wolle. Man muß der Geistlichkeit die Anerkennung zollen, daß ihr diese Ehre zu groß schien. Sie trat zweifelnd dazwischen und verwies die Aspirantinnen an die Aerzte. Manche gaben dann die Sache wieder auf; andre siechen noch jetzt ohne Nimbus fort. Die bedeutendste dieser unächten Nebensonnen war die Heilige von Tscherms, einem Dörfchen bei Löwenberg. Sie war die Pflegetochter eines wohlhabenden Bauern und fühlte die Gnade zuerst im Jahre 1836. In ihrem Beichtvater, dem Curaten, fand sie endlich den Gönner, der ihren Zustand zur Kenntniß der Christenheit brachte. Im Jahre darauf zeigte sich die Gabe der Weissagung; damit wuchs auch die Berühmtheit und der Besuch. Der Geistlichkeit der Nachbarschaft mißfiel jedoch das Verhältniß der heiligen Jungfrau zu ihrem Gewissensrath.

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[394/0398] Wenn man sich nun erkundigt, wie das innere Leben Mariens während ihrer Verzückungen beschaffen sey, erfährt man „daß sie sich, nach Görres’ Worten, mit einer fortlaufenden innern Anschauung des Lebens und Leidens Christi, mit Anbetung des heiligen Altarsacraments und mit einem wohlgeregelten, betrachtenden Gebete nach der Ordnung des Kirchenjahres beschäftige.“ Am Donnerstage und Freitage folgt sie der Leidensgeschichte und am letztern Tage um drei Uhr tritt der ecstatische Todeskampf ein, der in der christlichen Mystik beschrieben ist. Ein fröhliches Begängniß wird der heiligen Zeit um Weihnachten zu Theil, wo Marie laut jubelt über die Geburt des Herrn und das Kindlein mit den Armen freudig wiegt; auch geht es lustig zu, wenn die Hochzeit zu Cana gefeiert wird. Dann jubilirt sie mit den Hochzeitgästen und gibt durch freudenvolle Gebärden ihre mystische Theilnahme an dem biblischen Vorgange zu erkennen. Auffallend war, daß der Zustand des Fräuleins bald nach seiner Epiphanie endemisch zu werden drohte. Ueberall in der Runde standen Mädchen auf, die von der tentatio diabolica zu leiden haben wollten und daraus als Heilige hervorzugehen gedachten. Von den Frommen zu Bozen wurde die hysterische Legion besonders gehätschelt, als eine Gnade des Himmels, der das gottselige Etschland vor allen andern Ländern auszeichnen wolle. Man muß der Geistlichkeit die Anerkennung zollen, daß ihr diese Ehre zu groß schien. Sie trat zweifelnd dazwischen und verwies die Aspirantinnen an die Aerzte. Manche gaben dann die Sache wieder auf; andre siechen noch jetzt ohne Nimbus fort. Die bedeutendste dieser unächten Nebensonnen war die Heilige von Tscherms, einem Dörfchen bei Löwenberg. Sie war die Pflegetochter eines wohlhabenden Bauern und fühlte die Gnade zuerst im Jahre 1836. In ihrem Beichtvater, dem Curaten, fand sie endlich den Gönner, der ihren Zustand zur Kenntniß der Christenheit brachte. Im Jahre darauf zeigte sich die Gabe der Weissagung; damit wuchs auch die Berühmtheit und der Besuch. Der Geistlichkeit der Nachbarschaft mißfiel jedoch das Verhältniß der heiligen Jungfrau zu ihrem Gewissensrath.

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Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/398>, abgerufen am 23.11.2024.