Nord- und Südpolarität das Bild der Linie mit zwei Grenz- punkten oder das Bild zweier von einem Punkte, dem Indiffe- renzpunkte, ausgehenden Linien zu Grunde liegt, wird das Ver- hältniß der Farben in einem Dreiecke angeschaut. Becker sieht aber darum in den Verhältnissen von roth und gelb, roth und violett, grün und blau (S. 66) nur Gegensatz schlechtweg, Ge- gensatz in dem einen wie in dem andern. So rächt sich hier in auffallender Weise die zu große Enge, welche der Gegensatz in Beckers Definition erhält, durch den Umschlag in zu große Weite. Weil Becker bloß den linearen Gegensatz kennt, so kann er, trotzdem er fortwährend das Beiwort polarisch im Munde führt, den Gegensatz von der einfachen Verschiedenheit und die sanft zur Einheit verschmelzende Harmonie von der schreienden Disharmonie nicht unterscheiden; alles fällt in die gleichgültige Verschiedenheit zurück, in ein bloß mechanisches Nebeneinan- der, in ein inhaltsloses Anderssein; a und b sind andere gegen einander: das ist der Inhalt des Beckerschen Organismus. Das ist freilich nicht so zu verstehen, als wäre es einerlei, mit Be- cker zu sagen: Nerv und Muskel stehen im Differenzverhältniß, also ist Nerv nicht Muskel; oder zu sagen: Nerv ist nicht Stein, nicht Luft u. s. w. Aber indem gesagt wird: Nerv ist nicht Muskel, bleibt allerdings unbeachtet, daß er auch nicht Gehirn, nicht Blut ist, nicht Knochen, nicht Haut und Haar. Indem man aber aus einer Einheit vielfacher Gegensätze einen heraus- hebt und zum polarischen Gegensatze zuspitzt, hat man diese Einheit aufgelöst, und durch ihre Trennung sind diese Gegen- sätze nicht nur gleichgültig gegen einander geworden, sondern, da zur Kraft jedes einzelnen auch die andern beitragen müssen, ist ihre gegensätzliche Beziehung zu einer Beziehung überhaupt, in welche unser Denken zwei Elemente bringt, herabgesetzt, -- zu einer Beziehung, welche nicht viel höher als das bloße An- derssein steht. So ist es Becker ergangen; und wenn er sagt (S. 66): "Die Verneinung gehöret ganz dem Gedanken und zwar dem Urtheile, nicht dem Begriffe an. Wenn man sagt, a sei nichtb, so wird nur in einem Urtheile die Identität der zu ei- ner Gattung gehörigen Arten verneint, aber über das eigentliche Verhältniß, in welchem a zu b steht, wird nichts ausgesagt", und somit überhaupt nichts über das Wesen von a oder b --; wenn dies Becker selbst sagt, so hat er sich selbst verurtheilt.
Nord- und Südpolarität das Bild der Linie mit zwei Grenz- punkten oder das Bild zweier von einem Punkte, dem Indiffe- renzpunkte, ausgehenden Linien zu Grunde liegt, wird das Ver- hältniß der Farben in einem Dreiecke angeschaut. Becker sieht aber darum in den Verhältnissen von roth und gelb, roth und violett, grün und blau (S. 66) nur Gegensatz schlechtweg, Ge- gensatz in dem einen wie in dem andern. So rächt sich hier in auffallender Weise die zu große Enge, welche der Gegensatz in Beckers Definition erhält, durch den Umschlag in zu große Weite. Weil Becker bloß den linearen Gegensatz kennt, so kann er, trotzdem er fortwährend das Beiwort polarisch im Munde führt, den Gegensatz von der einfachen Verschiedenheit und die sanft zur Einheit verschmelzende Harmonie von der schreienden Disharmonie nicht unterscheiden; alles fällt in die gleichgültige Verschiedenheit zurück, in ein bloß mechanisches Nebeneinan- der, in ein inhaltsloses Anderssein; a und b sind andere gegen einander: das ist der Inhalt des Beckerschen Organismus. Das ist freilich nicht so zu verstehen, als wäre es einerlei, mit Be- cker zu sagen: Nerv und Muskel stehen im Differenzverhältniß, also ist Nerv nicht Muskel; oder zu sagen: Nerv ist nicht Stein, nicht Luft u. s. w. Aber indem gesagt wird: Nerv ist nicht Muskel, bleibt allerdings unbeachtet, daß er auch nicht Gehirn, nicht Blut ist, nicht Knochen, nicht Haut und Haar. Indem man aber aus einer Einheit vielfacher Gegensätze einen heraus- hebt und zum polarischen Gegensatze zuspitzt, hat man diese Einheit aufgelöst, und durch ihre Trennung sind diese Gegen- sätze nicht nur gleichgültig gegen einander geworden, sondern, da zur Kraft jedes einzelnen auch die andern beitragen müssen, ist ihre gegensätzliche Beziehung zu einer Beziehung überhaupt, in welche unser Denken zwei Elemente bringt, herabgesetzt, — zu einer Beziehung, welche nicht viel höher als das bloße An- derssein steht. So ist es Becker ergangen; und wenn er sagt (S. 66): „Die Verneinung gehöret ganz dem Gedanken und zwar dem Urtheile, nicht dem Begriffe an. Wenn man sagt, a sei nichtb, so wird nur in einem Urtheile die Identität der zu ei- ner Gattung gehörigen Arten verneint, aber über das eigentliche Verhältniß, in welchem a zu b steht, wird nichts ausgesagt“, und somit überhaupt nichts über das Wesen von a oder b —; wenn dies Becker selbst sagt, so hat er sich selbst verurtheilt.
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Nord- und Südpolarität das Bild der Linie mit zwei Grenz-
punkten oder das Bild zweier von einem Punkte, dem Indiffe-
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hältniß der Farben in einem Dreiecke angeschaut. Becker sieht
aber darum in den Verhältnissen von roth und gelb, roth und
violett, grün und blau (S. 66) nur Gegensatz schlechtweg, Ge-
gensatz in dem einen wie in dem andern. So rächt sich hier
in auffallender Weise die zu große Enge, welche der Gegensatz
in Beckers Definition erhält, durch den Umschlag in zu große
Weite. Weil Becker bloß den linearen Gegensatz kennt, so
kann er, trotzdem er fortwährend das Beiwort polarisch im Munde
führt, den Gegensatz von der einfachen Verschiedenheit und die
sanft zur Einheit verschmelzende Harmonie von der schreienden
Disharmonie nicht unterscheiden; alles fällt in die gleichgültige
Verschiedenheit zurück, in ein bloß mechanisches Nebeneinan-
der, in ein inhaltsloses Anderssein; a und b sind andere gegen
einander: das ist der Inhalt des Beckerschen Organismus. Das
ist freilich nicht so zu verstehen, als wäre es einerlei, mit Be-
cker zu sagen: Nerv und Muskel stehen im Differenzverhältniß,
also ist Nerv nicht Muskel; oder zu sagen: Nerv ist nicht Stein,
nicht Luft u. s. w. Aber indem gesagt wird: Nerv ist nicht
Muskel, bleibt allerdings unbeachtet, daß er auch nicht Gehirn,
nicht Blut ist, nicht Knochen, nicht Haut und Haar. Indem
man aber aus einer Einheit vielfacher Gegensätze einen heraus-
hebt und zum polarischen Gegensatze zuspitzt, hat man diese
Einheit aufgelöst, und durch ihre Trennung sind diese Gegen-
sätze nicht nur gleichgültig gegen einander geworden, sondern,
da zur Kraft jedes einzelnen auch die andern beitragen müssen,
ist ihre gegensätzliche Beziehung zu einer Beziehung überhaupt,
in welche unser Denken zwei Elemente bringt, herabgesetzt, —
zu einer Beziehung, welche nicht viel höher als das bloße An-
derssein steht. So ist es Becker ergangen; und wenn er sagt (S.
66): „Die Verneinung gehöret ganz dem Gedanken und zwar
dem Urtheile, nicht dem Begriffe an. Wenn man sagt, a sei
nicht b, so wird nur in einem Urtheile die Identität der zu ei-
ner Gattung gehörigen Arten verneint, aber über das eigentliche
Verhältniß, in welchem a zu b steht, wird nichts ausgesagt“, und
somit überhaupt nichts über das Wesen von a oder b —; wenn
dies Becker selbst sagt, so hat er sich selbst verurtheilt.
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/83>, abgerufen am 21.11.2024.
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