lich alles als organisch erweisen. Das Fließen des Flusses z. B. ist eine organische Verrichtung; denn es geht mit innerer Noth- wendigkeit aus dem Leben des Flusses hervor und hat dieses Leben zum Zwecke.
Becker hat dies nicht erkannt; ein horror vacui aber, der dem Geiste eingeprägt ist, hat ihn von unserm obigen Schlusse zurück- gehalten, in welchem das Vacuum seiner Tautologie klar an den Tag gekommen wäre. Becker will doch nun aber einmal noch ein zweites Merkmal des Organischen aufgestellt haben, will doch nun einmal dieses in der Sprache finden; und was kann der Mensch nicht alles, wenn er will! Suchet, so werdet ihr finden! Becker hat gefunden: "Die Verrichtung des Sprechens hat das Leben selbst, und zwar das innerste Leben des Menschen zum Zwecke ... denn" -- nun nicht obiger Schluß, der das Verdienst hätte bei der Sache zu bleiben, freilich leer bei der leeren; sondern es wird um dieselbe herumgegangen -- "das menschliche Leben fordert nicht bloß, wie das Leben der Thiere, ein instinktartiges Beisammensein, durch welches die Erhaltung der Gattung bedingt ist; es fordert als menschliches Leben zugleich eine gesellige Mittheilung der Gedanken, und eine Ver- einbarung des individuellen Denkens zu einer Allen gemeinsamen Weltanschauung, durch welche auch das geistige Leben des Einzelnen zu einem Leben der ganzen Gattung wird. Wie bei den Geschlechtern der Thiere die Individuen durch instinktartige Verrichtungen auf leibliche Weise, so werden beim Menschen die Individuen durch die Sprache auf geistige Weise zu einer Gattung verbunden." Es wird also hier von Becker die andere Seite der Sprache hervorgehoben, wonach sie Werkzeug zur Mit- theilung der Gedanken ist; und der Schein der Verschiedenheit der beiden Merkmale, welche in der Definition der organischen Ver- richtung aufgestellt sind, wird dadurch aufrecht erhalten, daß jedes derselben auf eine der beiden Seiten der Sprache angewandt wird.
Das ist nun aber erstlich, wenn auch nicht beabsichtigte, doch wirkliche Sophisterei. Wäre jene Definition treffend, so müßte jedes ihrer Merkmale auf jede Seite des Definirten pas- sen, da diese Seiten doch in wirklicher Einheit liegen müssen. Unser obiger Schluß erfüllt diese Forderung; nämlich so: Die Sprache ist organisch, nicht bloß nach der Seite ihres nothwen- digen Zusammenhanges mit dem Denken, sondern auch nach der andern, wonach sie die Gedankenmittheilung bewerkstelligt.
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lich alles als organisch erweisen. Das Fließen des Flusses z. B. ist eine organische Verrichtung; denn es geht mit innerer Noth- wendigkeit aus dem Leben des Flusses hervor und hat dieses Leben zum Zwecke.
Becker hat dies nicht erkannt; ein horror vacui aber, der dem Geiste eingeprägt ist, hat ihn von unserm obigen Schlusse zurück- gehalten, in welchem das Vacuum seiner Tautologie klar an den Tag gekommen wäre. Becker will doch nun aber einmal noch ein zweites Merkmal des Organischen aufgestellt haben, will doch nun einmal dieses in der Sprache finden; und was kann der Mensch nicht alles, wenn er will! Suchet, so werdet ihr finden! Becker hat gefunden: „Die Verrichtung des Sprechens hat das Leben selbst, und zwar das innerste Leben des Menschen zum Zwecke … denn“ — nun nicht obiger Schluß, der das Verdienst hätte bei der Sache zu bleiben, freilich leer bei der leeren; sondern es wird um dieselbe herumgegangen — „das menschliche Leben fordert nicht bloß, wie das Leben der Thiere, ein instinktartiges Beisammensein, durch welches die Erhaltung der Gattung bedingt ist; es fordert als menschliches Leben zugleich eine gesellige Mittheilung der Gedanken, und eine Ver- einbarung des individuellen Denkens zu einer Allen gemeinsamen Weltanschauung, durch welche auch das geistige Leben des Einzelnen zu einem Leben der ganzen Gattung wird. Wie bei den Geschlechtern der Thiere die Individuen durch instinktartige Verrichtungen auf leibliche Weise, so werden beim Menschen die Individuen durch die Sprache auf geistige Weise zu einer Gattung verbunden.“ Es wird also hier von Becker die andere Seite der Sprache hervorgehoben, wonach sie Werkzeug zur Mit- theilung der Gedanken ist; und der Schein der Verschiedenheit der beiden Merkmale, welche in der Definition der organischen Ver- richtung aufgestellt sind, wird dadurch aufrecht erhalten, daß jedes derselben auf eine der beiden Seiten der Sprache angewandt wird.
Das ist nun aber erstlich, wenn auch nicht beabsichtigte, doch wirkliche Sophisterei. Wäre jene Definition treffend, so müßte jedes ihrer Merkmale auf jede Seite des Definirten pas- sen, da diese Seiten doch in wirklicher Einheit liegen müssen. Unser obiger Schluß erfüllt diese Forderung; nämlich so: Die Sprache ist organisch, nicht bloß nach der Seite ihres nothwen- digen Zusammenhanges mit dem Denken, sondern auch nach der andern, wonach sie die Gedankenmittheilung bewerkstelligt.
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lich alles als organisch erweisen. Das Fließen des Flusses z. B.
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Leben zum Zwecke.
Becker hat dies nicht erkannt; ein horror vacui aber, der dem
Geiste eingeprägt ist, hat ihn von unserm obigen Schlusse zurück-
gehalten, in welchem das Vacuum seiner Tautologie klar an den
Tag gekommen wäre. Becker will doch nun aber einmal noch
ein zweites Merkmal des Organischen aufgestellt haben, will doch
nun einmal dieses in der Sprache finden; und was kann der Mensch
nicht alles, wenn er will! Suchet, so werdet ihr finden! Becker
hat gefunden: „Die Verrichtung des Sprechens hat das Leben
selbst, und zwar das innerste Leben des Menschen
zum Zwecke … denn“ — nun nicht obiger Schluß, der das
Verdienst hätte bei der Sache zu bleiben, freilich leer bei der
leeren; sondern es wird um dieselbe herumgegangen — „das
menschliche Leben fordert nicht bloß, wie das Leben der Thiere,
ein instinktartiges Beisammensein, durch welches die Erhaltung
der Gattung bedingt ist; es fordert als menschliches Leben
zugleich eine gesellige Mittheilung der Gedanken, und eine Ver-
einbarung des individuellen Denkens zu einer Allen gemeinsamen
Weltanschauung, durch welche auch das geistige Leben des
Einzelnen zu einem Leben der ganzen Gattung wird. Wie bei
den Geschlechtern der Thiere die Individuen durch instinktartige
Verrichtungen auf leibliche Weise, so werden beim Menschen
die Individuen durch die Sprache auf geistige Weise zu einer
Gattung verbunden.“ Es wird also hier von Becker die andere
Seite der Sprache hervorgehoben, wonach sie Werkzeug zur Mit-
theilung der Gedanken ist; und der Schein der Verschiedenheit
der beiden Merkmale, welche in der Definition der organischen Ver-
richtung aufgestellt sind, wird dadurch aufrecht erhalten, daß jedes
derselben auf eine der beiden Seiten der Sprache angewandt wird.
Das ist nun aber erstlich, wenn auch nicht beabsichtigte,
doch wirkliche Sophisterei. Wäre jene Definition treffend, so
müßte jedes ihrer Merkmale auf jede Seite des Definirten pas-
sen, da diese Seiten doch in wirklicher Einheit liegen müssen.
Unser obiger Schluß erfüllt diese Forderung; nämlich so: Die
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/71>, abgerufen am 24.11.2024.
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