Dinge giebt, deren Verrichtungen gemeint sein könnten; dann aber kann er auch nicht zeigen, wie das organische Ding eine unorganische Verrichtung haben könne, was für die obige De- finition, welche unorganische Verrichtungen organischer Dinge andeutet, noch wichtiger ist. Wir kommen hier wieder auf den schon betrachteten Punkt der "organischen Freiheit." Selbst zugestanden, jene Ableitung der Freiheit aus der Vielfältigkeit der Kräfte und ihrer Beziehungen sei nicht so spielerisch, wie sie ist, sondern stichhaltig; so würde sie nur viel Mannigfaltig- keit innerhalb der Verrichtung möglich machen, aber nicht den ganzen organischen Charakter derselben aufheben. Die Epheu- blätter werden doch darum nicht unorganisch, weil in ihrer Form so viel organische Freiheit herrscht; die Sprache, wie ausdrück- lich dort gelehrt wird, ist eine organische Verrichtung, obgleich in dem wirklichen Sprechen die Individualitäten der Völker und Personen freien Spielraum haben. Ebenso muß das Denken, wie so oft wiederholt wird, die Intelligenz, organisch bleiben, obgleich hier die organische Freiheit gegenüber der organischen Nothwendigkeit so groß ist. Woher also irgend welche unor- ganische Verrichtung? Und also, um darauf zurückzukommen, wenn keine unorganische Verrichtung, woher das unorganische Ding? Das geistige Leben der Menschheit als Art des allge- meinen Lebens ist organisch, und das wissenschaftliche und künstlerische wie praktische Arbeiten, die Thätigkeiten der In- telligenz und Sittlichkeit, "gehen aus dem Leben des Geistes selbst hervor mit einer inneren Nothwendigkeit und haben zu- gleich das Leben des Geistes selbst zum Zwecke, indem nur durch diese Thätigkeiten der Geist in der ihm eigenen Art sein und bestehen kann." Nach Becker aber müßten wir einer- seits das Fließen des Flusses seine organische Verrichtung nen- nen, und sagen, der Nil übe die organische Verrichtung der Bewässerung Aegyptens -- denn wer verkennt in diesen Verhältnis- sen einen von der Natur durch vielfaches Zusammenfassen ur- sächlicher Wirkungen erreichten Zweck? -- andererseits würde Beckers Ausarbeitung seines Organism eine unorganische Ver- richtung gewesen sein, wie Becker meint, und der Leser viel- leicht auch. Aber der Leser wird sich vielleicht auch mit uns nicht dazu verstehen wollen, jeden Regentropfen, jede Schnee- flocke, weil sie aus dem allgemeinen Leben der Natur stammt, als organisches Ding, und das Schmelzen des Schnees als or-
Dinge giebt, deren Verrichtungen gemeint sein könnten; dann aber kann er auch nicht zeigen, wie das organische Ding eine unorganische Verrichtung haben könne, was für die obige De- finition, welche unorganische Verrichtungen organischer Dinge andeutet, noch wichtiger ist. Wir kommen hier wieder auf den schon betrachteten Punkt der „organischen Freiheit.“ Selbst zugestanden, jene Ableitung der Freiheit aus der Vielfältigkeit der Kräfte und ihrer Beziehungen sei nicht so spielerisch, wie sie ist, sondern stichhaltig; so würde sie nur viel Mannigfaltig- keit innerhalb der Verrichtung möglich machen, aber nicht den ganzen organischen Charakter derselben aufheben. Die Epheu- blätter werden doch darum nicht unorganisch, weil in ihrer Form so viel organische Freiheit herrscht; die Sprache, wie ausdrück- lich dort gelehrt wird, ist eine organische Verrichtung, obgleich in dem wirklichen Sprechen die Individualitäten der Völker und Personen freien Spielraum haben. Ebenso muß das Denken, wie so oft wiederholt wird, die Intelligenz, organisch bleiben, obgleich hier die organische Freiheit gegenüber der organischen Nothwendigkeit so groß ist. Woher also irgend welche unor- ganische Verrichtung? Und also, um darauf zurückzukommen, wenn keine unorganische Verrichtung, woher das unorganische Ding? Das geistige Leben der Menschheit als Art des allge- meinen Lebens ist organisch, und das wissenschaftliche und künstlerische wie praktische Arbeiten, die Thätigkeiten der In- telligenz und Sittlichkeit, „gehen aus dem Leben des Geistes selbst hervor mit einer inneren Nothwendigkeit und haben zu- gleich das Leben des Geistes selbst zum Zwecke, indem nur durch diese Thätigkeiten der Geist in der ihm eigenen Art sein und bestehen kann.“ Nach Becker aber müßten wir einer- seits das Fließen des Flusses seine organische Verrichtung nen- nen, und sagen, der Nil übe die organische Verrichtung der Bewässerung Aegyptens — denn wer verkennt in diesen Verhältnis- sen einen von der Natur durch vielfaches Zusammenfassen ur- sächlicher Wirkungen erreichten Zweck? — andererseits würde Beckers Ausarbeitung seines Organism eine unorganische Ver- richtung gewesen sein, wie Becker meint, und der Leser viel- leicht auch. Aber der Leser wird sich vielleicht auch mit uns nicht dazu verstehen wollen, jeden Regentropfen, jede Schnee- flocke, weil sie aus dem allgemeinen Leben der Natur stammt, als organisches Ding, und das Schmelzen des Schnees als or-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0062"n="24"/>
Dinge giebt, deren Verrichtungen gemeint sein könnten; dann<lb/>
aber kann er auch nicht zeigen, wie das organische Ding eine<lb/>
unorganische Verrichtung haben könne, was für die obige De-<lb/>
finition, welche unorganische Verrichtungen organischer Dinge<lb/>
andeutet, noch wichtiger ist. Wir kommen hier wieder auf den<lb/>
schon betrachteten Punkt der „organischen Freiheit.“ Selbst<lb/>
zugestanden, jene Ableitung der Freiheit aus der Vielfältigkeit<lb/>
der Kräfte und ihrer Beziehungen sei nicht so spielerisch, wie<lb/>
sie ist, sondern stichhaltig; so würde sie nur viel Mannigfaltig-<lb/>
keit innerhalb der Verrichtung möglich machen, aber nicht den<lb/>
ganzen organischen Charakter derselben aufheben. Die Epheu-<lb/>
blätter werden doch darum nicht unorganisch, weil in ihrer Form<lb/>
so viel organische Freiheit herrscht; die Sprache, wie ausdrück-<lb/>
lich dort gelehrt wird, ist eine organische Verrichtung, obgleich<lb/>
in dem wirklichen Sprechen die Individualitäten der Völker und<lb/>
Personen freien Spielraum haben. Ebenso muß das Denken,<lb/>
wie so oft wiederholt wird, die Intelligenz, organisch bleiben,<lb/>
obgleich hier die organische Freiheit gegenüber der organischen<lb/>
Nothwendigkeit so groß ist. Woher also irgend welche unor-<lb/>
ganische Verrichtung? Und also, um darauf zurückzukommen,<lb/>
wenn keine unorganische Verrichtung, woher das unorganische<lb/>
Ding? Das geistige Leben der Menschheit als Art des allge-<lb/>
meinen Lebens ist organisch, und das wissenschaftliche und<lb/>
künstlerische wie praktische Arbeiten, die Thätigkeiten der In-<lb/>
telligenz und Sittlichkeit, „gehen aus dem Leben des Geistes<lb/>
selbst hervor mit einer inneren Nothwendigkeit und haben zu-<lb/>
gleich das Leben des Geistes selbst zum Zwecke, indem nur<lb/>
durch diese Thätigkeiten der Geist in der ihm eigenen Art sein<lb/>
und bestehen kann.“ Nach Becker aber müßten wir einer-<lb/>
seits das Fließen des Flusses seine organische Verrichtung nen-<lb/>
nen, und sagen, der Nil übe die organische Verrichtung der<lb/>
Bewässerung Aegyptens — denn wer verkennt in diesen Verhältnis-<lb/>
sen einen von der Natur durch vielfaches Zusammenfassen ur-<lb/>
sächlicher Wirkungen erreichten Zweck? — andererseits würde<lb/>
Beckers Ausarbeitung seines Organism eine unorganische Ver-<lb/>
richtung gewesen sein, wie Becker meint, und der Leser viel-<lb/>
leicht auch. Aber der Leser wird sich vielleicht auch mit uns<lb/>
nicht dazu verstehen wollen, jeden Regentropfen, jede Schnee-<lb/>
flocke, weil sie aus dem allgemeinen Leben der Natur stammt,<lb/>
als organisches Ding, und das Schmelzen des Schnees als or-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[24/0062]
Dinge giebt, deren Verrichtungen gemeint sein könnten; dann
aber kann er auch nicht zeigen, wie das organische Ding eine
unorganische Verrichtung haben könne, was für die obige De-
finition, welche unorganische Verrichtungen organischer Dinge
andeutet, noch wichtiger ist. Wir kommen hier wieder auf den
schon betrachteten Punkt der „organischen Freiheit.“ Selbst
zugestanden, jene Ableitung der Freiheit aus der Vielfältigkeit
der Kräfte und ihrer Beziehungen sei nicht so spielerisch, wie
sie ist, sondern stichhaltig; so würde sie nur viel Mannigfaltig-
keit innerhalb der Verrichtung möglich machen, aber nicht den
ganzen organischen Charakter derselben aufheben. Die Epheu-
blätter werden doch darum nicht unorganisch, weil in ihrer Form
so viel organische Freiheit herrscht; die Sprache, wie ausdrück-
lich dort gelehrt wird, ist eine organische Verrichtung, obgleich
in dem wirklichen Sprechen die Individualitäten der Völker und
Personen freien Spielraum haben. Ebenso muß das Denken,
wie so oft wiederholt wird, die Intelligenz, organisch bleiben,
obgleich hier die organische Freiheit gegenüber der organischen
Nothwendigkeit so groß ist. Woher also irgend welche unor-
ganische Verrichtung? Und also, um darauf zurückzukommen,
wenn keine unorganische Verrichtung, woher das unorganische
Ding? Das geistige Leben der Menschheit als Art des allge-
meinen Lebens ist organisch, und das wissenschaftliche und
künstlerische wie praktische Arbeiten, die Thätigkeiten der In-
telligenz und Sittlichkeit, „gehen aus dem Leben des Geistes
selbst hervor mit einer inneren Nothwendigkeit und haben zu-
gleich das Leben des Geistes selbst zum Zwecke, indem nur
durch diese Thätigkeiten der Geist in der ihm eigenen Art sein
und bestehen kann.“ Nach Becker aber müßten wir einer-
seits das Fließen des Flusses seine organische Verrichtung nen-
nen, und sagen, der Nil übe die organische Verrichtung der
Bewässerung Aegyptens — denn wer verkennt in diesen Verhältnis-
sen einen von der Natur durch vielfaches Zusammenfassen ur-
sächlicher Wirkungen erreichten Zweck? — andererseits würde
Beckers Ausarbeitung seines Organism eine unorganische Ver-
richtung gewesen sein, wie Becker meint, und der Leser viel-
leicht auch. Aber der Leser wird sich vielleicht auch mit uns
nicht dazu verstehen wollen, jeden Regentropfen, jede Schnee-
flocke, weil sie aus dem allgemeinen Leben der Natur stammt,
als organisches Ding, und das Schmelzen des Schnees als or-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/62>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.