heit gegenüberstehen. Es ist uns freilich eine seltsame Zumu- thung, den Geist als den Urheber des Unorganischen anzuse- hen, als ein Außen, welches in das innere Naturleben störend eingreift; es ist uns seltsam und abschreckend, den Geist, der als Ausfluß des allgemeinen Lebens doch auch eine nothwen- dige, unfreie, gebundene Seite hat, rücksichtlich dieser seiner Unfreiheit als organisch, rücksichtlich seines Wesens und Wir- kens aber, rücksichtlich seiner Freiheit als unorganisch zu be- trachten. Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit sind unorganisch; aber die Brennessel ist organisch! Becker mag es verant- worten!
§. 5. Die Freiheit.
Wie ist nun aber die Freiheit möglich? das müssen wir von Becker hören. Nicht im "Organism," aber im Werke "Das Wort" läßt sich Becker über diesen nach allen Seiten so wichtigen Punkt folgendermaßen vernehmen (S. 255): "Die Ent- wickelung der organischen Dinge geschieht nach einer inneren Nothwendigkeit, indem bestimmte Kräfte und Thätigkeiten nach bestimmten inneren Gesetzen einander anregend und beschrän- kend zusammenwirken; und das Erzeugniß derselben organi- schen Kräfte, welche nach denselben Gesetzen zusammenwirken, kann immer nur als eins und dasselbe in die Erscheinung tre- ten: daher in den organischen Dingen die Einheit der Arten. Je mehr sich aber in den organischen Dingen die Gegensätze von Kräften und Thätigkeiten vervielfältigen, und je mannigfal- tiger insbesondere die Wechselwirkungen werden, in welche ein organisches Ding mit anderen Dingen tritt; desto mehr wird das Erzeugniß derselben Kräfte, welche nach denselben Gesetzen wirken, als ein Mannigfaltiges erscheinen: daher in den orga- nischen Dingen mannigfaltige Unterschiede der Individuen in derselben Art." -- "Daher?" Nimmermehr! Hier ist eine Täuschung, die auf dem schwankenden Sinne des Wortes "mannigfaltig" beruht. Wenn mannigfaltige Kräfte in man- nigfaltigen Beziehungen wirken, so wird das Erzeugniß der- selben, da alle jene Kräfte in allen jenen Beziehungen in ihm wieder vorhanden sein müssen, ein in sich mannigfaltig gegliedertes Wesen sein, wie Becker sagt, "als ein Mannig- faltiges erscheinen;" aber, wenn jene Kräfte nach unbeugsa- men Gesetzen wirken, wird es immer dasselbe sein, ohne den
heit gegenüberstehen. Es ist uns freilich eine seltsame Zumu- thung, den Geist als den Urheber des Unorganischen anzuse- hen, als ein Außen, welches in das innere Naturleben störend eingreift; es ist uns seltsam und abschreckend, den Geist, der als Ausfluß des allgemeinen Lebens doch auch eine nothwen- dige, unfreie, gebundene Seite hat, rücksichtlich dieser seiner Unfreiheit als organisch, rücksichtlich seines Wesens und Wir- kens aber, rücksichtlich seiner Freiheit als unorganisch zu be- trachten. Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit sind unorganisch; aber die Brennessel ist organisch! Becker mag es verant- worten!
§. 5. Die Freiheit.
Wie ist nun aber die Freiheit möglich? das müssen wir von Becker hören. Nicht im „Organism,“ aber im Werke „Das Wort“ läßt sich Becker über diesen nach allen Seiten so wichtigen Punkt folgendermaßen vernehmen (S. 255): „Die Ent- wickelung der organischen Dinge geschieht nach einer inneren Nothwendigkeit, indem bestimmte Kräfte und Thätigkeiten nach bestimmten inneren Gesetzen einander anregend und beschrän- kend zusammenwirken; und das Erzeugniß derselben organi- schen Kräfte, welche nach denselben Gesetzen zusammenwirken, kann immer nur als eins und dasselbe in die Erscheinung tre- ten: daher in den organischen Dingen die Einheit der Arten. Je mehr sich aber in den organischen Dingen die Gegensätze von Kräften und Thätigkeiten vervielfältigen, und je mannigfal- tiger insbesondere die Wechselwirkungen werden, in welche ein organisches Ding mit anderen Dingen tritt; desto mehr wird das Erzeugniß derselben Kräfte, welche nach denselben Gesetzen wirken, als ein Mannigfaltiges erscheinen: daher in den orga- nischen Dingen mannigfaltige Unterschiede der Individuen in derselben Art.“ — „Daher?“ Nimmermehr! Hier ist eine Täuschung, die auf dem schwankenden Sinne des Wortes „mannigfaltig“ beruht. Wenn mannigfaltige Kräfte in man- nigfaltigen Beziehungen wirken, so wird das Erzeugniß der- selben, da alle jene Kräfte in allen jenen Beziehungen in ihm wieder vorhanden sein müssen, ein in sich mannigfaltig gegliedertes Wesen sein, wie Becker sagt, „als ein Mannig- faltiges erscheinen;“ aber, wenn jene Kräfte nach unbeugsa- men Gesetzen wirken, wird es immer dasselbe sein, ohne den
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heit gegenüberstehen. Es ist uns freilich eine seltsame Zumu-
thung, den Geist als den Urheber des Unorganischen anzuse-
hen, als ein Außen, welches in das innere Naturleben störend
eingreift; es ist uns seltsam und abschreckend, den Geist, der
als Ausfluß des allgemeinen Lebens doch auch eine nothwen-
dige, unfreie, gebundene Seite hat, rücksichtlich dieser seiner
Unfreiheit als organisch, rücksichtlich seines Wesens und Wir-
kens aber, rücksichtlich seiner Freiheit als unorganisch zu be-
trachten. Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit sind unorganisch;
aber die Brennessel ist organisch! Becker mag es verant-
worten!
§. 5. Die Freiheit.
Wie ist nun aber die Freiheit möglich? das müssen wir
von Becker hören. Nicht im „Organism,“ aber im Werke
„Das Wort“ läßt sich Becker über diesen nach allen Seiten so
wichtigen Punkt folgendermaßen vernehmen (S. 255): „Die Ent-
wickelung der organischen Dinge geschieht nach einer inneren
Nothwendigkeit, indem bestimmte Kräfte und Thätigkeiten nach
bestimmten inneren Gesetzen einander anregend und beschrän-
kend zusammenwirken; und das Erzeugniß derselben organi-
schen Kräfte, welche nach denselben Gesetzen zusammenwirken,
kann immer nur als eins und dasselbe in die Erscheinung tre-
ten: daher in den organischen Dingen die Einheit der Arten.
Je mehr sich aber in den organischen Dingen die Gegensätze
von Kräften und Thätigkeiten vervielfältigen, und je mannigfal-
tiger insbesondere die Wechselwirkungen werden, in welche ein
organisches Ding mit anderen Dingen tritt; desto mehr wird das
Erzeugniß derselben Kräfte, welche nach denselben Gesetzen
wirken, als ein Mannigfaltiges erscheinen: daher in den orga-
nischen Dingen mannigfaltige Unterschiede der Individuen in
derselben Art.“ — „Daher?“ Nimmermehr! Hier ist eine
Täuschung, die auf dem schwankenden Sinne des Wortes
„mannigfaltig“ beruht. Wenn mannigfaltige Kräfte in man-
nigfaltigen Beziehungen wirken, so wird das Erzeugniß der-
selben, da alle jene Kräfte in allen jenen Beziehungen in
ihm wieder vorhanden sein müssen, ein in sich mannigfaltig
gegliedertes Wesen sein, wie Becker sagt, „als ein Mannig-
faltiges erscheinen;“ aber, wenn jene Kräfte nach unbeugsa-
men Gesetzen wirken, wird es immer dasselbe sein, ohne den
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/46>, abgerufen am 21.11.2024.
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