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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Frage, daß Substantiva und Verba, wie auch Adjectiva und
Adverbia, Stoffelemente sind. Wie steht es aber mit dem Pro-
nomen?

Ich habe heute noch die Ansicht, die ich schon in den ein-
leitenden Bemerkungen zu meiner Schrift De pronomine relativo
ausgesprochen, daß die Pronomina Stoffwörter sind. Die Sache
ist mir zu wichtig -- denn die Eintheilung der Sprachen in
formlose und Formsprachen, also der Kern der Classification der
Sprachen beruht hierauf -- als daß ich nicht hier dabei ver-
weilen müßte.

Ich habe meine Ansicht aus Humboldt geschöpft, ein Um-
stand, dessen ich mir damals, als ich sie zuerst aussprach, gar
nicht bewußt war. Um dies Versehen wieder gut zu machen,
werde ich hier an Humboldt anknüpfen und die betreffenden
Stellen aus seiner Einleitung angeben. Sie finden sich nämlich
S. 332. (oder CCCXLVIII.), 275. (oder CCXCI.), wo bestimmt
das Pronomen von dem Personalzeichen am Verbum geschieden
wird. Nun sagt zwar Humboldt nicht, worin der Unterschied
liege, und doch gilt ihm derselbe für so groß und wichtig, daß
hierauf im Wesentlichsten die Reinheit und Vollkommenheit oder
Unreinheit und Unvollkommenheit der Sprachen beruht. Wir
glauben nun aber nicht bloß die Sache, sondern Humboldts Sinn,
sein sprachwissenschaftliches Gefühl zu deuten, indem wir an-
nehmen, daß die Pronomina ursprünglich Stoffwörter sind, die
Personalendungen dagegen formale Elemente. Daher haben alle
Sprachen, welche das Pronomen mit dem Particip verbinden,
z. B. statt amo nur ego amans sagen, wie alle hinterasiatische
Sprachen, das Tibetische, Mandschurische, Mongolische mit in-
begriffen, alle diese Sprachen, sage ich, haben keine Verbalfle-
xion, keine Formen, sind formlose Sprachen.

Was ist denn wohl für ein Unterschied zwischen amo
und ego amans? ist es denn so wesentlich, daß dort das Ele-
ment für ego mit der Verbalwurzel verbunden, hier von ihr ge-
trennt ist und für sich bleibt? Diese lautliche Beschaffenheit an
sich ist sehr gleichgültig, und auf solche Merkmale eine Clas-
sification der Sprachen gründen heißt auf Sand bauen. Wir
sagen "ich spreche" in zwei völlig getrennten Wörtern, die aber
doch nur eine Verbalform und eine ganz reine Form bilden;
während jene Völker, und sprächen sie selbst eg-amans, immer
noch keine Form hätten; denn j'aime ist nicht reinere Form,

Frage, daß Substantiva und Verba, wie auch Adjectiva und
Adverbia, Stoffelemente sind. Wie steht es aber mit dem Pro-
nomen?

Ich habe heute noch die Ansicht, die ich schon in den ein-
leitenden Bemerkungen zu meiner Schrift De pronomine relativo
ausgesprochen, daß die Pronomina Stoffwörter sind. Die Sache
ist mir zu wichtig — denn die Eintheilung der Sprachen in
formlose und Formsprachen, also der Kern der Classification der
Sprachen beruht hierauf — als daß ich nicht hier dabei ver-
weilen müßte.

Ich habe meine Ansicht aus Humboldt geschöpft, ein Um-
stand, dessen ich mir damals, als ich sie zuerst aussprach, gar
nicht bewußt war. Um dies Versehen wieder gut zu machen,
werde ich hier an Humboldt anknüpfen und die betreffenden
Stellen aus seiner Einleitung angeben. Sie finden sich nämlich
S. 332. (oder CCCXLVIII.), 275. (oder CCXCI.), wo bestimmt
das Pronomen von dem Personalzeichen am Verbum geschieden
wird. Nun sagt zwar Humboldt nicht, worin der Unterschied
liege, und doch gilt ihm derselbe für so groß und wichtig, daß
hierauf im Wesentlichsten die Reinheit und Vollkommenheit oder
Unreinheit und Unvollkommenheit der Sprachen beruht. Wir
glauben nun aber nicht bloß die Sache, sondern Humboldts Sinn,
sein sprachwissenschaftliches Gefühl zu deuten, indem wir an-
nehmen, daß die Pronomina ursprünglich Stoffwörter sind, die
Personalendungen dagegen formale Elemente. Daher haben alle
Sprachen, welche das Pronomen mit dem Particip verbinden,
z. B. statt amo nur ego amans sagen, wie alle hinterasiatische
Sprachen, das Tibetische, Mandschurische, Mongolische mit in-
begriffen, alle diese Sprachen, sage ich, haben keine Verbalfle-
xion, keine Formen, sind formlose Sprachen.

Was ist denn wohl für ein Unterschied zwischen amo
und ego amans? ist es denn so wesentlich, daß dort das Ele-
ment für ego mit der Verbalwurzel verbunden, hier von ihr ge-
trennt ist und für sich bleibt? Diese lautliche Beschaffenheit an
sich ist sehr gleichgültig, und auf solche Merkmale eine Clas-
sification der Sprachen gründen heißt auf Sand bauen. Wir
sagen „ich spreche“ in zwei völlig getrennten Wörtern, die aber
doch nur eine Verbalform und eine ganz reine Form bilden;
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[363/0401] Frage, daß Substantiva und Verba, wie auch Adjectiva und Adverbia, Stoffelemente sind. Wie steht es aber mit dem Pro- nomen? Ich habe heute noch die Ansicht, die ich schon in den ein- leitenden Bemerkungen zu meiner Schrift De pronomine relativo ausgesprochen, daß die Pronomina Stoffwörter sind. Die Sache ist mir zu wichtig — denn die Eintheilung der Sprachen in formlose und Formsprachen, also der Kern der Classification der Sprachen beruht hierauf — als daß ich nicht hier dabei ver- weilen müßte. Ich habe meine Ansicht aus Humboldt geschöpft, ein Um- stand, dessen ich mir damals, als ich sie zuerst aussprach, gar nicht bewußt war. Um dies Versehen wieder gut zu machen, werde ich hier an Humboldt anknüpfen und die betreffenden Stellen aus seiner Einleitung angeben. Sie finden sich nämlich S. 332. (oder CCCXLVIII.), 275. (oder CCXCI.), wo bestimmt das Pronomen von dem Personalzeichen am Verbum geschieden wird. Nun sagt zwar Humboldt nicht, worin der Unterschied liege, und doch gilt ihm derselbe für so groß und wichtig, daß hierauf im Wesentlichsten die Reinheit und Vollkommenheit oder Unreinheit und Unvollkommenheit der Sprachen beruht. Wir glauben nun aber nicht bloß die Sache, sondern Humboldts Sinn, sein sprachwissenschaftliches Gefühl zu deuten, indem wir an- nehmen, daß die Pronomina ursprünglich Stoffwörter sind, die Personalendungen dagegen formale Elemente. Daher haben alle Sprachen, welche das Pronomen mit dem Particip verbinden, z. B. statt amo nur ego amans sagen, wie alle hinterasiatische Sprachen, das Tibetische, Mandschurische, Mongolische mit in- begriffen, alle diese Sprachen, sage ich, haben keine Verbalfle- xion, keine Formen, sind formlose Sprachen. Was ist denn wohl für ein Unterschied zwischen amo und ego amans? ist es denn so wesentlich, daß dort das Ele- ment für ego mit der Verbalwurzel verbunden, hier von ihr ge- trennt ist und für sich bleibt? Diese lautliche Beschaffenheit an sich ist sehr gleichgültig, und auf solche Merkmale eine Clas- sification der Sprachen gründen heißt auf Sand bauen. Wir sagen „ich spreche“ in zwei völlig getrennten Wörtern, die aber doch nur eine Verbalform und eine ganz reine Form bilden; während jene Völker, und sprächen sie selbst eg⁀amans, immer noch keine Form hätten; denn j’aime ist nicht reinere Form,

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/401>, abgerufen am 24.11.2024.