Formen. Der Sprachforscher jedoch erkennt auf seinem Ge- biete, für die Sprache, diesen Unterschied nicht an. Für die deutschen Sprachforscher ist es ja nun wohl schon eine gemeine Bemerkung, daß die Sprache kein fertiges Werk ist, daß sie gar kein ruhendes Dasein hat, sondern reine Thätigkeit, bloße Bewegung ist. Nichts in der Sprache ist starr, alles flüssig; und so ist auch das Wort und die bestimmte Bewegungsform des Wortes nur die fließende Form einer Thätigkeit, ein Schritt des Sprachganges, der verschwindet, wenn er vorüber ist; der keine materialen Spuren zurückläßt, sondern bloß dynamische in der Seele; der wohl wiederholt werden kann, aber dann eben so materialiter verschwindet, und nur dynamisch zurückbleibt.
Der Laut, d. h. die allgemeine Fähigkeit des Lautens, und das instinctive Selbstbewußtsein sind der Stoff, die Dynamis, der Sprache; das wirkliche Sprechen ist die Energie; die Sprach- form, sowohl Laut- als innere Form, ist die Entelechie, d. h. die Bewegung, welche die Dynamis zur Wirklichkeit umgestal- tet, den Stoff formt. Aber Energie und Entelechie sind nur verschiedene Auffassungen desselben Wesens. Die Sprachform ist allemal bewegtes Leben, dessen Wirken seine Geburt, dessen Sein Wirken ist. Denn die Sprache ist ein geistiges Wesen; und im Geiste ist nichts Wirkung, ist alles Wirken.
§. 127. Stoff und Form in der Sprache.
Abgesehen also davon, daß man die allgemeine Fähigkeit zur Sprache als Stoff, die Verwirklichung als Form ansehen kann, haben wir innerhalb der Sprache noch keinen Unterschied zwischen Stoff und Form auffinden können. Die Sprache ist also nichts als Form; ihr Stoff, der Gedanke, liegt außer ihr. Sie ist darum reine Form, weil sie bloße Anschauung, Darstel- lung, Schein des Gedankens ist. Der Gedanke aber enthält Stoff und Form: Stoff, wie er ihn durch Sinnesempfindungen und Gefühle erlangt; Form, wie der Geist sie nothwendig jenem Stoffe anthut, indem er denselben auffaßt -- denn die geistige Auffassung ist nur Formung des durch die Sinne von außen gewonnenen Stoffes. In der Sprache nun ist der Schein von beiden Elementen des Gedankens, vom Stoff und von der Form. Die Sprache ist also Darstellung oder Form sowohl des Gedan- kenstoffes, als der Gedankenform.
Hätten wir nun etwa hiermit schon den Unterschied von ma- terialen und formalen Elementen der Sprache gewonnen? Schwer-
Formen. Der Sprachforscher jedoch erkennt auf seinem Ge- biete, für die Sprache, diesen Unterschied nicht an. Für die deutschen Sprachforscher ist es ja nun wohl schon eine gemeine Bemerkung, daß die Sprache kein fertiges Werk ist, daß sie gar kein ruhendes Dasein hat, sondern reine Thätigkeit, bloße Bewegung ist. Nichts in der Sprache ist starr, alles flüssig; und so ist auch das Wort und die bestimmte Bewegungsform des Wortes nur die fließende Form einer Thätigkeit, ein Schritt des Sprachganges, der verschwindet, wenn er vorüber ist; der keine materialen Spuren zurückläßt, sondern bloß dynamische in der Seele; der wohl wiederholt werden kann, aber dann eben so materialiter verschwindet, und nur dynamisch zurückbleibt.
Der Laut, d. h. die allgemeine Fähigkeit des Lautens, und das instinctive Selbstbewußtsein sind der Stoff, die Dynamis, der Sprache; das wirkliche Sprechen ist die Energie; die Sprach- form, sowohl Laut- als innere Form, ist die Entelechie, d. h. die Bewegung, welche die Dynamis zur Wirklichkeit umgestal- tet, den Stoff formt. Aber Energie und Entelechie sind nur verschiedene Auffassungen desselben Wesens. Die Sprachform ist allemal bewegtes Leben, dessen Wirken seine Geburt, dessen Sein Wirken ist. Denn die Sprache ist ein geistiges Wesen; und im Geiste ist nichts Wirkung, ist alles Wirken.
§. 127. Stoff und Form in der Sprache.
Abgesehen also davon, daß man die allgemeine Fähigkeit zur Sprache als Stoff, die Verwirklichung als Form ansehen kann, haben wir innerhalb der Sprache noch keinen Unterschied zwischen Stoff und Form auffinden können. Die Sprache ist also nichts als Form; ihr Stoff, der Gedanke, liegt außer ihr. Sie ist darum reine Form, weil sie bloße Anschauung, Darstel- lung, Schein des Gedankens ist. Der Gedanke aber enthält Stoff und Form: Stoff, wie er ihn durch Sinnesempfindungen und Gefühle erlangt; Form, wie der Geist sie nothwendig jenem Stoffe anthut, indem er denselben auffaßt — denn die geistige Auffassung ist nur Formung des durch die Sinne von außen gewonnenen Stoffes. In der Sprache nun ist der Schein von beiden Elementen des Gedankens, vom Stoff und von der Form. Die Sprache ist also Darstellung oder Form sowohl des Gedan- kenstoffes, als der Gedankenform.
Hätten wir nun etwa hiermit schon den Unterschied von ma- terialen und formalen Elementen der Sprache gewonnen? Schwer-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><pbfacs="#f0398"n="360"/>
Formen. Der Sprachforscher jedoch erkennt auf seinem Ge-<lb/>
biete, für die Sprache, diesen Unterschied nicht an. Für die<lb/>
deutschen Sprachforscher ist es ja nun wohl schon eine gemeine<lb/>
Bemerkung, daß die Sprache kein fertiges Werk ist, daß sie<lb/>
gar kein ruhendes Dasein hat, sondern reine Thätigkeit, bloße<lb/>
Bewegung ist. Nichts in der Sprache ist starr, alles flüssig;<lb/>
und so ist auch das Wort und die bestimmte Bewegungsform<lb/>
des Wortes nur die fließende Form einer Thätigkeit, ein Schritt<lb/>
des Sprachganges, der verschwindet, wenn er vorüber ist; der<lb/>
keine materialen Spuren zurückläßt, sondern bloß dynamische<lb/>
in der Seele; der wohl wiederholt werden kann, aber dann eben<lb/>
so materialiter verschwindet, und nur dynamisch zurückbleibt.</p><lb/><p>Der Laut, d. h. die allgemeine Fähigkeit des Lautens, und<lb/>
das instinctive Selbstbewußtsein sind der Stoff, die Dynamis,<lb/>
der Sprache; das wirkliche Sprechen ist die Energie; die Sprach-<lb/>
form, sowohl Laut- als innere Form, ist die Entelechie, d. h.<lb/>
die Bewegung, welche die Dynamis zur Wirklichkeit umgestal-<lb/>
tet, den Stoff formt. Aber Energie und Entelechie sind nur<lb/>
verschiedene Auffassungen desselben Wesens. Die Sprachform<lb/>
ist allemal bewegtes Leben, dessen Wirken seine Geburt, dessen<lb/>
Sein Wirken ist. Denn die Sprache ist ein geistiges Wesen;<lb/>
und im Geiste ist nichts Wirkung, ist alles Wirken.</p></div><lb/><divn="6"><head>§. 127. Stoff und Form in der Sprache.</head><lb/><p>Abgesehen also davon, daß man die allgemeine Fähigkeit<lb/>
zur Sprache als Stoff, die Verwirklichung als Form ansehen<lb/>
kann, haben wir innerhalb der Sprache noch keinen Unterschied<lb/>
zwischen Stoff und Form auffinden können. Die Sprache ist<lb/>
also nichts als Form; ihr Stoff, der Gedanke, liegt außer ihr.<lb/>
Sie ist darum reine Form, weil sie bloße Anschauung, Darstel-<lb/>
lung, Schein des Gedankens ist. Der Gedanke aber enthält<lb/>
Stoff und Form: Stoff, wie er ihn durch Sinnesempfindungen<lb/>
und Gefühle erlangt; Form, wie der Geist sie nothwendig jenem<lb/>
Stoffe anthut, indem er denselben auffaßt — denn die geistige<lb/>
Auffassung ist nur Formung des durch die Sinne von außen<lb/>
gewonnenen Stoffes. In der Sprache nun ist der Schein von<lb/>
beiden Elementen des Gedankens, vom Stoff und von der Form.<lb/>
Die Sprache ist also Darstellung oder Form sowohl des Gedan-<lb/>
kenstoffes, als der Gedankenform.</p><lb/><p>Hätten wir nun etwa hiermit schon den Unterschied von ma-<lb/>
terialen und formalen Elementen der Sprache gewonnen? Schwer-<lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[360/0398]
Formen. Der Sprachforscher jedoch erkennt auf seinem Ge-
biete, für die Sprache, diesen Unterschied nicht an. Für die
deutschen Sprachforscher ist es ja nun wohl schon eine gemeine
Bemerkung, daß die Sprache kein fertiges Werk ist, daß sie
gar kein ruhendes Dasein hat, sondern reine Thätigkeit, bloße
Bewegung ist. Nichts in der Sprache ist starr, alles flüssig;
und so ist auch das Wort und die bestimmte Bewegungsform
des Wortes nur die fließende Form einer Thätigkeit, ein Schritt
des Sprachganges, der verschwindet, wenn er vorüber ist; der
keine materialen Spuren zurückläßt, sondern bloß dynamische
in der Seele; der wohl wiederholt werden kann, aber dann eben
so materialiter verschwindet, und nur dynamisch zurückbleibt.
Der Laut, d. h. die allgemeine Fähigkeit des Lautens, und
das instinctive Selbstbewußtsein sind der Stoff, die Dynamis,
der Sprache; das wirkliche Sprechen ist die Energie; die Sprach-
form, sowohl Laut- als innere Form, ist die Entelechie, d. h.
die Bewegung, welche die Dynamis zur Wirklichkeit umgestal-
tet, den Stoff formt. Aber Energie und Entelechie sind nur
verschiedene Auffassungen desselben Wesens. Die Sprachform
ist allemal bewegtes Leben, dessen Wirken seine Geburt, dessen
Sein Wirken ist. Denn die Sprache ist ein geistiges Wesen;
und im Geiste ist nichts Wirkung, ist alles Wirken.
§. 127. Stoff und Form in der Sprache.
Abgesehen also davon, daß man die allgemeine Fähigkeit
zur Sprache als Stoff, die Verwirklichung als Form ansehen
kann, haben wir innerhalb der Sprache noch keinen Unterschied
zwischen Stoff und Form auffinden können. Die Sprache ist
also nichts als Form; ihr Stoff, der Gedanke, liegt außer ihr.
Sie ist darum reine Form, weil sie bloße Anschauung, Darstel-
lung, Schein des Gedankens ist. Der Gedanke aber enthält
Stoff und Form: Stoff, wie er ihn durch Sinnesempfindungen
und Gefühle erlangt; Form, wie der Geist sie nothwendig jenem
Stoffe anthut, indem er denselben auffaßt — denn die geistige
Auffassung ist nur Formung des durch die Sinne von außen
gewonnenen Stoffes. In der Sprache nun ist der Schein von
beiden Elementen des Gedankens, vom Stoff und von der Form.
Die Sprache ist also Darstellung oder Form sowohl des Gedan-
kenstoffes, als der Gedankenform.
Hätten wir nun etwa hiermit schon den Unterschied von ma-
terialen und formalen Elementen der Sprache gewonnen? Schwer-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/398>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.