d) Mittheilung, Verständniß, Sprechenlernen der Kinder.
§. 102.
Die vorzüglichste Ursache, warum man früher das Wesen und den Ursprung der Sprache mißverstand, oder das vorzüg- lichste Mißverständniß über die Sprache lag darin, daß man sie als bloße Mittheilung auffaßte, während sie im Gegentheil wesentlichst und zunächst ein Selbstbewußtsein, d. h. eine Mit- theilung an den Sprechenden selbst ist, eine Darstellung und Auffassung zuerst für und durch den Redenden selbst, und dann erst für Andere.
An eine Kritik der ältern Ansichten kann ich hier nicht denken. Ich habe anderwärts Herder und Haman einander ent- gegengesetzt und zu zeigen gesucht, wie sie sich an sich selbst und an einander aufreiben. Hier will ich aber Herbarts An- sicht über die Entstehung der Sprache anführen. Sie ist schwach genug und könnte allen Psychologen zur Warnung dienen, die sich der Sprachforschung entschlagen zu können meinen*). Aber immer noch ist unsere Absicht, durch die folgende Anführung Herbarts statt vieler andern Citate diesen größten Psychologen und eigentlichen Gründer der wissenschaftlichen Psychologie zu ehren; denn seine Ansicht ist doch werthvoller als die Her- dersche, und schließt das Wahre der ganzen Vergangenheit in sich. Zu seiner Entschuldigung mag noch dienen, daß Wil- helm von Humboldts großes Werk erst erschien, als er seinem Tode schon nahe war.
"Worin liegt denn das Wunderbare der Sprache?" fragt er (Psych. §. 130. Werke VI, S. 217.) unwillig über die "zu starken" Ausdrücke, in denen man vom "Wunderbaren" der Sprache redet. Man sieht sogleich wieder, daß er sich gegen die Uebertreibung stemmt. Er fährt in der Absicht, das Wun- der zu erklären, fort: "Wenn Sprache, ihrem Begriffe nach, ab- sichtliche Mittheilung der Gedanken durch willkürliche Zeichen ist, so konnten die ersten Mittheilungen unmöglich durch Spra- che geschehen. Denn willkürliche Zeichen müssen verabredet werden, sonst würden sie entweder nicht verstanden, oder höch-
*) Oder klagen vielleicht die Psychologen die Sprachforscher an, daß ihnen dieselben nicht in die Hand arbeiten? Wenn sie es thun -- wir müs- sen verstummen.
d) Mittheilung, Verständniß, Sprechenlernen der Kinder.
§. 102.
Die vorzüglichste Ursache, warum man früher das Wesen und den Ursprung der Sprache mißverstand, oder das vorzüg- lichste Mißverständniß über die Sprache lag darin, daß man sie als bloße Mittheilung auffaßte, während sie im Gegentheil wesentlichst und zunächst ein Selbstbewußtsein, d. h. eine Mit- theilung an den Sprechenden selbst ist, eine Darstellung und Auffassung zuerst für und durch den Redenden selbst, und dann erst für Andere.
An eine Kritik der ältern Ansichten kann ich hier nicht denken. Ich habe anderwärts Herder und Haman einander ent- gegengesetzt und zu zeigen gesucht, wie sie sich an sich selbst und an einander aufreiben. Hier will ich aber Herbarts An- sicht über die Entstehung der Sprache anführen. Sie ist schwach genug und könnte allen Psychologen zur Warnung dienen, die sich der Sprachforschung entschlagen zu können meinen*). Aber immer noch ist unsere Absicht, durch die folgende Anführung Herbarts statt vieler andern Citate diesen größten Psychologen und eigentlichen Gründer der wissenschaftlichen Psychologie zu ehren; denn seine Ansicht ist doch werthvoller als die Her- dersche, und schließt das Wahre der ganzen Vergangenheit in sich. Zu seiner Entschuldigung mag noch dienen, daß Wil- helm von Humboldts großes Werk erst erschien, als er seinem Tode schon nahe war.
„Worin liegt denn das Wunderbare der Sprache?“ fragt er (Psych. §. 130. Werke VI, S. 217.) unwillig über die „zu starken“ Ausdrücke, in denen man vom „Wunderbaren“ der Sprache redet. Man sieht sogleich wieder, daß er sich gegen die Uebertreibung stemmt. Er fährt in der Absicht, das Wun- der zu erklären, fort: „Wenn Sprache, ihrem Begriffe nach, ab- sichtliche Mittheilung der Gedanken durch willkürliche Zeichen ist, so konnten die ersten Mittheilungen unmöglich durch Spra- che geschehen. Denn willkürliche Zeichen müssen verabredet werden, sonst würden sie entweder nicht verstanden, oder höch-
*) Oder klagen vielleicht die Psychologen die Sprachforscher an, daß ihnen dieselben nicht in die Hand arbeiten? Wenn sie es thun — wir müs- sen verstummen.
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d) Mittheilung, Verständniß, Sprechenlernen der
Kinder.
§. 102.
Die vorzüglichste Ursache, warum man früher das Wesen
und den Ursprung der Sprache mißverstand, oder das vorzüg-
lichste Mißverständniß über die Sprache lag darin, daß man
sie als bloße Mittheilung auffaßte, während sie im Gegentheil
wesentlichst und zunächst ein Selbstbewußtsein, d. h. eine Mit-
theilung an den Sprechenden selbst ist, eine Darstellung und
Auffassung zuerst für und durch den Redenden selbst, und dann
erst für Andere.
An eine Kritik der ältern Ansichten kann ich hier nicht
denken. Ich habe anderwärts Herder und Haman einander ent-
gegengesetzt und zu zeigen gesucht, wie sie sich an sich selbst
und an einander aufreiben. Hier will ich aber Herbarts An-
sicht über die Entstehung der Sprache anführen. Sie ist schwach
genug und könnte allen Psychologen zur Warnung dienen, die
sich der Sprachforschung entschlagen zu können meinen *). Aber
immer noch ist unsere Absicht, durch die folgende Anführung
Herbarts statt vieler andern Citate diesen größten Psychologen
und eigentlichen Gründer der wissenschaftlichen Psychologie
zu ehren; denn seine Ansicht ist doch werthvoller als die Her-
dersche, und schließt das Wahre der ganzen Vergangenheit in
sich. Zu seiner Entschuldigung mag noch dienen, daß Wil-
helm von Humboldts großes Werk erst erschien, als er seinem
Tode schon nahe war.
„Worin liegt denn das Wunderbare der Sprache?“ fragt
er (Psych. §. 130. Werke VI, S. 217.) unwillig über die „zu
starken“ Ausdrücke, in denen man vom „Wunderbaren“ der
Sprache redet. Man sieht sogleich wieder, daß er sich gegen
die Uebertreibung stemmt. Er fährt in der Absicht, das Wun-
der zu erklären, fort: „Wenn Sprache, ihrem Begriffe nach, ab-
sichtliche Mittheilung der Gedanken durch willkürliche Zeichen
ist, so konnten die ersten Mittheilungen unmöglich durch Spra-
che geschehen. Denn willkürliche Zeichen müssen verabredet
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*) Oder klagen vielleicht die Psychologen die Sprachforscher an, daß
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/353>, abgerufen am 22.11.2024.
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