Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht mehr ursprüngliche Reflexlaute, sondern schon aus den-
selben gebildete Wurzelwörter verwandt.

Der Inhalt der innern Sprachform auf dieser Stufe, das
was das Bewußtsein hier in seiner Anschauung anschaut, ist
klar; es ist nämlich eben das zur Bezeichnung dienende Merk-
mal; und die Etymologie ist es, welche uns den Sinn der in-
nern Sprachform, den Gedanken des instinctiven Selbstbewußt-
seins aufschließt. Das griechische Volk erkannte an seiner gune
(der Engländer an seiner Queen), die Gebärende, an Sohn ha-
ben wir den Erzeugten, an filius den saugenden, an unserm
Wolf den zerreißenden, an der Maus den Dieb u. s. w. Vieles
wäre hierbei noch zu bemerken; doch es ist alles schon bekannt.

§. 101. Dritte Stufe der innern Sprachform.

Eine dritte Weise der Wortschöpfung giebt es eigentlich
nicht. Doch müssen wir eine dritte Stufe der innern Sprach-
form, des instinctiven Selbstbewußtseins anerkennen, wo zwar
nichts Neues auftritt, aber das Alte sich ändert. Dies ist die
Stufe der geschichtlichen Zeit, wo Laut und objective Anschauung
oder Bedeutung ohne Vermittlung verbunden sind, gerade so un-
mittelbar, wie Kitzel mit Lachen, ein Reiz in der Schleimhaut
der Nase mit Niesen und alle jene rein mechanischen Reflexbe-
wegungen, welche auf Gefühle erfolgen. Diese Unmittelbarkeit
in der Verbindung der Sprachfactoren rührt daher, daß die in-
nere Sprachform aus dem Bewußtsein geschwunden ist; so ist
es bei uns heute. Wie bei jenen Gefühlsreflexionen die Ver-
mittlung der beiden Momente im physiologischen Mechanismus
liegt: so ist in geschichtlicher Zeit das Band von Bedeutung
und Laut der reine psychische Mechanismus, das Gesetz der
Association. Die innere Sprachform ist jetzt nur noch der Punkt,
wo Laut und Bedeutung sich berühren, ein Punkt ohne Aus-
dehnung und Inhalt. Wir haben eben das instinctive Selbst-
bewußtsein nicht mehr; es ist verdrängt durch das wirkliche
Selbstbewußtsein, oder mindestens durch ein viel reicheres Be-
wußtsein, als jenes instinctive. Wir lernen am Wolfe, an der
Maus, am Weibe u. s. w. so viele Beziehungen kennen, und Be-
ziehungen, die wichtiger für uns sind, als die im Worte liegende,
daß diese letztere vor der hellen Beleuchtung, welche jene vom
Bewußtsein erhalten, allmählich in den Schatten tritt und end-
lich ganz in die Nacht der Vergessenheit sinkt. Dies wird wei-
terhin noch klarer werden.

nicht mehr ursprüngliche Reflexlaute, sondern schon aus den-
selben gebildete Wurzelwörter verwandt.

Der Inhalt der innern Sprachform auf dieser Stufe, das
was das Bewußtsein hier in seiner Anschauung anschaut, ist
klar; es ist nämlich eben das zur Bezeichnung dienende Merk-
mal; und die Etymologie ist es, welche uns den Sinn der in-
nern Sprachform, den Gedanken des instinctiven Selbstbewußt-
seins aufschließt. Das griechische Volk erkannte an seiner γυνή
(der Engländer an seiner Queen), die Gebärende, an Sohn ha-
ben wir den Erzeugten, an filius den saugenden, an unserm
Wolf den zerreißenden, an der Maus den Dieb u. s. w. Vieles
wäre hierbei noch zu bemerken; doch es ist alles schon bekannt.

§. 101. Dritte Stufe der innern Sprachform.

Eine dritte Weise der Wortschöpfung giebt es eigentlich
nicht. Doch müssen wir eine dritte Stufe der innern Sprach-
form, des instinctiven Selbstbewußtseins anerkennen, wo zwar
nichts Neues auftritt, aber das Alte sich ändert. Dies ist die
Stufe der geschichtlichen Zeit, wo Laut und objective Anschauung
oder Bedeutung ohne Vermittlung verbunden sind, gerade so un-
mittelbar, wie Kitzel mit Lachen, ein Reiz in der Schleimhaut
der Nase mit Niesen und alle jene rein mechanischen Reflexbe-
wegungen, welche auf Gefühle erfolgen. Diese Unmittelbarkeit
in der Verbindung der Sprachfactoren rührt daher, daß die in-
nere Sprachform aus dem Bewußtsein geschwunden ist; so ist
es bei uns heute. Wie bei jenen Gefühlsreflexionen die Ver-
mittlung der beiden Momente im physiologischen Mechanismus
liegt: so ist in geschichtlicher Zeit das Band von Bedeutung
und Laut der reine psychische Mechanismus, das Gesetz der
Association. Die innere Sprachform ist jetzt nur noch der Punkt,
wo Laut und Bedeutung sich berühren, ein Punkt ohne Aus-
dehnung und Inhalt. Wir haben eben das instinctive Selbst-
bewußtsein nicht mehr; es ist verdrängt durch das wirkliche
Selbstbewußtsein, oder mindestens durch ein viel reicheres Be-
wußtsein, als jenes instinctive. Wir lernen am Wolfe, an der
Maus, am Weibe u. s. w. so viele Beziehungen kennen, und Be-
ziehungen, die wichtiger für uns sind, als die im Worte liegende,
daß diese letztere vor der hellen Beleuchtung, welche jene vom
Bewußtsein erhalten, allmählich in den Schatten tritt und end-
lich ganz in die Nacht der Vergessenheit sinkt. Dies wird wei-
terhin noch klarer werden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0352" n="314"/>
nicht mehr ursprüngliche Reflexlaute, sondern schon aus den-<lb/>
selben gebildete Wurzelwörter verwandt.</p><lb/>
                    <p>Der Inhalt der innern Sprachform auf dieser Stufe, das<lb/>
was das Bewußtsein hier in seiner Anschauung anschaut, ist<lb/>
klar; es ist nämlich eben das zur Bezeichnung dienende Merk-<lb/>
mal; und die Etymologie ist es, welche uns den Sinn der in-<lb/>
nern Sprachform, den Gedanken des instinctiven Selbstbewußt-<lb/>
seins aufschließt. Das griechische Volk erkannte an seiner &#x03B3;&#x03C5;&#x03BD;&#x03AE;<lb/>
(der Engländer an seiner <hi rendition="#g">Queen</hi>), die Gebärende, an <hi rendition="#i">Sohn</hi> ha-<lb/>
ben wir den Erzeugten, an <hi rendition="#g">filius</hi> den saugenden, an unserm<lb/><hi rendition="#i">Wolf</hi> den zerreißenden, an der <hi rendition="#i">Maus</hi> den Dieb u. s. w. Vieles<lb/>
wäre hierbei noch zu bemerken; doch es ist alles schon bekannt.</p>
                  </div>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 101. Dritte Stufe der innern Sprachform.</head><lb/>
                  <p>Eine dritte Weise der Wortschöpfung giebt es eigentlich<lb/>
nicht. Doch müssen wir eine dritte Stufe der innern Sprach-<lb/>
form, des instinctiven Selbstbewußtseins anerkennen, wo zwar<lb/>
nichts Neues auftritt, aber das Alte sich ändert. Dies ist die<lb/>
Stufe der geschichtlichen Zeit, wo Laut und objective Anschauung<lb/>
oder Bedeutung ohne Vermittlung verbunden sind, gerade so un-<lb/>
mittelbar, wie Kitzel mit Lachen, ein Reiz in der Schleimhaut<lb/>
der Nase mit Niesen und alle jene rein mechanischen Reflexbe-<lb/>
wegungen, welche auf Gefühle erfolgen. Diese Unmittelbarkeit<lb/>
in der Verbindung der Sprachfactoren rührt daher, daß die in-<lb/>
nere Sprachform aus dem Bewußtsein geschwunden ist; so ist<lb/>
es bei uns heute. Wie bei jenen Gefühlsreflexionen die Ver-<lb/>
mittlung der beiden Momente im physiologischen Mechanismus<lb/>
liegt: so ist in geschichtlicher Zeit das Band von Bedeutung<lb/>
und Laut der reine psychische Mechanismus, das Gesetz der<lb/>
Association. Die innere Sprachform ist jetzt nur noch der Punkt,<lb/>
wo Laut und Bedeutung sich berühren, ein Punkt ohne Aus-<lb/>
dehnung und Inhalt. Wir haben eben das instinctive Selbst-<lb/>
bewußtsein nicht mehr; es ist verdrängt durch das wirkliche<lb/>
Selbstbewußtsein, oder mindestens durch ein viel reicheres Be-<lb/>
wußtsein, als jenes instinctive. Wir lernen am Wolfe, an der<lb/>
Maus, am Weibe u. s. w. so viele Beziehungen kennen, und Be-<lb/>
ziehungen, die wichtiger für uns sind, als die im Worte liegende,<lb/>
daß diese letztere vor der hellen Beleuchtung, welche jene vom<lb/>
Bewußtsein erhalten, allmählich in den Schatten tritt und end-<lb/>
lich ganz in die Nacht der Vergessenheit sinkt. Dies wird wei-<lb/>
terhin noch klarer werden.</p>
                </div>
              </div>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[314/0352] nicht mehr ursprüngliche Reflexlaute, sondern schon aus den- selben gebildete Wurzelwörter verwandt. Der Inhalt der innern Sprachform auf dieser Stufe, das was das Bewußtsein hier in seiner Anschauung anschaut, ist klar; es ist nämlich eben das zur Bezeichnung dienende Merk- mal; und die Etymologie ist es, welche uns den Sinn der in- nern Sprachform, den Gedanken des instinctiven Selbstbewußt- seins aufschließt. Das griechische Volk erkannte an seiner γυνή (der Engländer an seiner Queen), die Gebärende, an Sohn ha- ben wir den Erzeugten, an filius den saugenden, an unserm Wolf den zerreißenden, an der Maus den Dieb u. s. w. Vieles wäre hierbei noch zu bemerken; doch es ist alles schon bekannt. §. 101. Dritte Stufe der innern Sprachform. Eine dritte Weise der Wortschöpfung giebt es eigentlich nicht. Doch müssen wir eine dritte Stufe der innern Sprach- form, des instinctiven Selbstbewußtseins anerkennen, wo zwar nichts Neues auftritt, aber das Alte sich ändert. Dies ist die Stufe der geschichtlichen Zeit, wo Laut und objective Anschauung oder Bedeutung ohne Vermittlung verbunden sind, gerade so un- mittelbar, wie Kitzel mit Lachen, ein Reiz in der Schleimhaut der Nase mit Niesen und alle jene rein mechanischen Reflexbe- wegungen, welche auf Gefühle erfolgen. Diese Unmittelbarkeit in der Verbindung der Sprachfactoren rührt daher, daß die in- nere Sprachform aus dem Bewußtsein geschwunden ist; so ist es bei uns heute. Wie bei jenen Gefühlsreflexionen die Ver- mittlung der beiden Momente im physiologischen Mechanismus liegt: so ist in geschichtlicher Zeit das Band von Bedeutung und Laut der reine psychische Mechanismus, das Gesetz der Association. Die innere Sprachform ist jetzt nur noch der Punkt, wo Laut und Bedeutung sich berühren, ein Punkt ohne Aus- dehnung und Inhalt. Wir haben eben das instinctive Selbst- bewußtsein nicht mehr; es ist verdrängt durch das wirkliche Selbstbewußtsein, oder mindestens durch ein viel reicheres Be- wußtsein, als jenes instinctive. Wir lernen am Wolfe, an der Maus, am Weibe u. s. w. so viele Beziehungen kennen, und Be- ziehungen, die wichtiger für uns sind, als die im Worte liegende, daß diese letztere vor der hellen Beleuchtung, welche jene vom Bewußtsein erhalten, allmählich in den Schatten tritt und end- lich ganz in die Nacht der Vergessenheit sinkt. Dies wird wei- terhin noch klarer werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/352
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/352>, abgerufen am 23.11.2024.