Kinde dasselbe geistige Wesen annehmen, welches der ausge- bildete Mensch zeigt; aber theils noch unter einem leiblichen Drucke, theils noch ohne volle leibliche Unterstützung und noch nicht im Besitze ideeller Hülfsmittel, die es sich freilich selbst erschaffen muß. In diesem Sinne sagen wir, das Kind und der Urmensch besitzen sämmtliches menschliches Wissen und Kön- nen im Keime, in der Anlage; d. h. sie besitzen es zwar noch nicht; aber sie können es erwerben.
Von den Thieren aber kann dies keineswegs gesagt werden. Der Druck ihres Leibes auf ihre Seele, seine schwächere Un- terstützung der Seele schwindet nie, weil diese Beschaffenheit des Leibes der thierischen Seele angemessen ist, weil es eben gar kein Druck ist, der von der Seele als Druck empfunden würde, und endlich weil die Thierseele sich nicht jene ideellen Hülfs- mittel des Menschen zu verschaffen vermag. Daher können wir letztlich den Unterschied zwischen menschlicher und thierischer Seele so ausdrücken, daß wir kurz sagen: das Thier hat Seele; aber die menschliche Seele ist nicht eigentlich dies, sondern sie ist schlafender Geist und wird zum wachenden Geiste werden, sobald ein gewisser Druck geschwunden ist, eine gewisse Kraft sich angesammelt hat. Wie dies nun aber geschieht, das haben wir im Vorangehenden schon vielfach bemerkt, und werden es noch weiter sehen.
Die Anlage zur Sprache in dem Sinne, wie wir sie so eben dargelegt haben, diese Anlage, welche wir dem Thiere ab- sprechen, dem Menschen aber zuerkennen (indem wir ihre See- len nicht zu derselben Art rechnen), welche auch beim Men- schen ursprünglich schlummert und dann hervorbricht: wir wüß- ten nicht, was gegen dieselbe, selbst auf dem Standpunkte der Herbartischen Metaphysik, eingewendet werden könnte. Denn wir haben hier keine ursprüngliche Anlage, sondern ein Werk, ein Organ, das die Seele nach ihrer durchaus einfachen Natur sich erschafien muß, die thierische Seele aber nie zu erschaffen vermag, weil sie nicht schlafender Geist ist, nicht als Geist er- wachen wird. Die thierische Seele ist sehr bald alles was sie sein kann; die menschliche Seele ist der Keim einer Frucht, welche wir Geist nennen; und die Sprache ist in dieser Ana- logie der Proceß des Reifens. Die thierische Seele ist ein see- lischer Krystall; die menschliche Seele ist dagegen der schon vorhandene, obwohl noch unreife Geist. Derjenige seelische
Kinde dasselbe geistige Wesen annehmen, welches der ausge- bildete Mensch zeigt; aber theils noch unter einem leiblichen Drucke, theils noch ohne volle leibliche Unterstützung und noch nicht im Besitze ideeller Hülfsmittel, die es sich freilich selbst erschaffen muß. In diesem Sinne sagen wir, das Kind und der Urmensch besitzen sämmtliches menschliches Wissen und Kön- nen im Keime, in der Anlage; d. h. sie besitzen es zwar noch nicht; aber sie können es erwerben.
Von den Thieren aber kann dies keineswegs gesagt werden. Der Druck ihres Leibes auf ihre Seele, seine schwächere Un- terstützung der Seele schwindet nie, weil diese Beschaffenheit des Leibes der thierischen Seele angemessen ist, weil es eben gar kein Druck ist, der von der Seele als Druck empfunden würde, und endlich weil die Thierseele sich nicht jene ideellen Hülfs- mittel des Menschen zu verschaffen vermag. Daher können wir letztlich den Unterschied zwischen menschlicher und thierischer Seele so ausdrücken, daß wir kurz sagen: das Thier hat Seele; aber die menschliche Seele ist nicht eigentlich dies, sondern sie ist schlafender Geist und wird zum wachenden Geiste werden, sobald ein gewisser Druck geschwunden ist, eine gewisse Kraft sich angesammelt hat. Wie dies nun aber geschieht, das haben wir im Vorangehenden schon vielfach bemerkt, und werden es noch weiter sehen.
Die Anlage zur Sprache in dem Sinne, wie wir sie so eben dargelegt haben, diese Anlage, welche wir dem Thiere ab- sprechen, dem Menschen aber zuerkennen (indem wir ihre See- len nicht zu derselben Art rechnen), welche auch beim Men- schen ursprünglich schlummert und dann hervorbricht: wir wüß- ten nicht, was gegen dieselbe, selbst auf dem Standpunkte der Herbartischen Metaphysik, eingewendet werden könnte. Denn wir haben hier keine ursprüngliche Anlage, sondern ein Werk, ein Organ, das die Seele nach ihrer durchaus einfachen Natur sich erschafien muß, die thierische Seele aber nie zu erschaffen vermag, weil sie nicht schlafender Geist ist, nicht als Geist er- wachen wird. Die thierische Seele ist sehr bald alles was sie sein kann; die menschliche Seele ist der Keim einer Frucht, welche wir Geist nennen; und die Sprache ist in dieser Ana- logie der Proceß des Reifens. Die thierische Seele ist ein see- lischer Krystall; die menschliche Seele ist dagegen der schon vorhandene, obwohl noch unreife Geist. Derjenige seelische
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Kinde dasselbe geistige Wesen annehmen, welches der ausge-
bildete Mensch zeigt; aber theils noch unter einem leiblichen
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nicht im Besitze ideeller Hülfsmittel, die es sich freilich selbst
erschaffen muß. In diesem Sinne sagen wir, das Kind und der
Urmensch besitzen sämmtliches menschliches Wissen und Kön-
nen im Keime, in der Anlage; d. h. sie besitzen es zwar
noch nicht; aber sie können es erwerben.
Von den Thieren aber kann dies keineswegs gesagt werden.
Der Druck ihres Leibes auf ihre Seele, seine schwächere Un-
terstützung der Seele schwindet nie, weil diese Beschaffenheit
des Leibes der thierischen Seele angemessen ist, weil es eben
gar kein Druck ist, der von der Seele als Druck empfunden
würde, und endlich weil die Thierseele sich nicht jene ideellen Hülfs-
mittel des Menschen zu verschaffen vermag. Daher können wir
letztlich den Unterschied zwischen menschlicher und thierischer
Seele so ausdrücken, daß wir kurz sagen: das Thier hat Seele;
aber die menschliche Seele ist nicht eigentlich dies, sondern sie
ist schlafender Geist und wird zum wachenden Geiste werden,
sobald ein gewisser Druck geschwunden ist, eine gewisse Kraft
sich angesammelt hat. Wie dies nun aber geschieht, das haben
wir im Vorangehenden schon vielfach bemerkt, und werden es
noch weiter sehen.
Die Anlage zur Sprache in dem Sinne, wie wir sie so
eben dargelegt haben, diese Anlage, welche wir dem Thiere ab-
sprechen, dem Menschen aber zuerkennen (indem wir ihre See-
len nicht zu derselben Art rechnen), welche auch beim Men-
schen ursprünglich schlummert und dann hervorbricht: wir wüß-
ten nicht, was gegen dieselbe, selbst auf dem Standpunkte der
Herbartischen Metaphysik, eingewendet werden könnte. Denn
wir haben hier keine ursprüngliche Anlage, sondern ein Werk,
ein Organ, das die Seele nach ihrer durchaus einfachen Natur
sich erschafien muß, die thierische Seele aber nie zu erschaffen
vermag, weil sie nicht schlafender Geist ist, nicht als Geist er-
wachen wird. Die thierische Seele ist sehr bald alles was sie
sein kann; die menschliche Seele ist der Keim einer Frucht,
welche wir Geist nennen; und die Sprache ist in dieser Ana-
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/340>, abgerufen am 25.11.2024.
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