Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geht noch auf dem Boden der Anschauung vor, oder erhebt sich aus ihr. Die Seele, sich von der äußern Anschauung abwendend und in sich kehrend, ihren Gedächtnißbesitz von Anschauungen wahr- nehmend, wird zur Anschauung ihrer Anschauungen. Und so bestimmen wir die erste Stufe des Selbstbewußtseins als An- schauung der Anschauung.
§. 93. Instinctives Selbstbewußtsein.
Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geschieht aber selbst noch ohne Bewußtsein. Es ist das unbewußte Selbstbe- wußtsein, und das nennen wir das instinctive Selbstbe- wußtsein. Der Mensch hat einen instinctiven Verstand, ver- möge dessen er urtheilt und schließt. Wir sagten oben, es fühle der Mensch unmittelbar; empfinden aber müsse er lernen durch Erfahrung. Wir sehen z. B. bloß Flächen, keine Körper; wir sehen Körper, aber keine Entfernungen, d. h. leere Räume. Wir lernen jedoch, durch mancherlei Erfahrungen, Schlüsse und Ur- theile, einen Kreis und eine Kugel, ein Quadrat und einen Wür- fel unterscheiden. Doch dieses ganze experimentirende Nach- denken, wodurch die ersten Erkenntnisse räumlicher Verhältnisse erworben werden, wodurch wir lernen die Hand nach dem Munde oder nach dem Fuße zu führen, was alles nicht unmittelbar ge- geben ist, sondern gelernt werden muß: dieses Nachdenken sage ich, geschieht bewußtlos; es ist instinctiver Verstand, der In- stinct des Menschen. Dem Thiere scheint dieser Instinct zu fehlen und durch den unmittelbarer wirkenden leiblichen Instinct ersetzt zu sein. Daher das Thier alles das, was der Mensch durch seinen instinctiven Verstand langsam erwirbt, viel schnel- ler erlangt.
Zum menschlichen Instincte gehören außer der Ergänzung der Empfindungen zu wahren Empfindungserkenntnissen alle jene sogenannten angeborenen Ideen; und man sieht also, wie beide Parteien, sowohl die, welche dieselben annahmen, als auch die, welche behaupteten, sie würden erst später als Werk der Cultur gebildet, im Irrthume waren. Jene Grundideen der menschli- chen Erkenntniß werden dem Menschen nicht so angeboren, wie seine Glieder, wie den Thieren die instinctive Kunstfertigkeit; sie werden aber auch nicht mit Bewußtsein durch Verstandes- cultur gebildet; denn sie gehen aller Verstandesbildung voraus und liegen ihr zu Grunde: sie werden erworben -- so weit ha-
Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geht noch auf dem Boden der Anschauung vor, oder erhebt sich aus ihr. Die Seele, sich von der äußern Anschauung abwendend und in sich kehrend, ihren Gedächtnißbesitz von Anschauungen wahr- nehmend, wird zur Anschauung ihrer Anschauungen. Und so bestimmen wir die erste Stufe des Selbstbewußtseins als An- schauung der Anschauung.
§. 93. Instinctives Selbstbewußtsein.
Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geschieht aber selbst noch ohne Bewußtsein. Es ist das unbewußte Selbstbe- wußtsein, und das nennen wir das instinctive Selbstbe- wußtsein. Der Mensch hat einen instinctiven Verstand, ver- möge dessen er urtheilt und schließt. Wir sagten oben, es fühle der Mensch unmittelbar; empfinden aber müsse er lernen durch Erfahrung. Wir sehen z. B. bloß Flächen, keine Körper; wir sehen Körper, aber keine Entfernungen, d. h. leere Räume. Wir lernen jedoch, durch mancherlei Erfahrungen, Schlüsse und Ur- theile, einen Kreis und eine Kugel, ein Quadrat und einen Wür- fel unterscheiden. Doch dieses ganze experimentirende Nach- denken, wodurch die ersten Erkenntnisse räumlicher Verhältnisse erworben werden, wodurch wir lernen die Hand nach dem Munde oder nach dem Fuße zu führen, was alles nicht unmittelbar ge- geben ist, sondern gelernt werden muß: dieses Nachdenken sage ich, geschieht bewußtlos; es ist instinctiver Verstand, der In- stinct des Menschen. Dem Thiere scheint dieser Instinct zu fehlen und durch den unmittelbarer wirkenden leiblichen Instinct ersetzt zu sein. Daher das Thier alles das, was der Mensch durch seinen instinctiven Verstand langsam erwirbt, viel schnel- ler erlangt.
Zum menschlichen Instincte gehören außer der Ergänzung der Empfindungen zu wahren Empfindungserkenntnissen alle jene sogenannten angeborenen Ideen; und man sieht also, wie beide Parteien, sowohl die, welche dieselben annahmen, als auch die, welche behaupteten, sie würden erst später als Werk der Cultur gebildet, im Irrthume waren. Jene Grundideen der menschli- chen Erkenntniß werden dem Menschen nicht so angeboren, wie seine Glieder, wie den Thieren die instinctive Kunstfertigkeit; sie werden aber auch nicht mit Bewußtsein durch Verstandes- cultur gebildet; denn sie gehen aller Verstandesbildung voraus und liegen ihr zu Grunde: sie werden erworben — so weit ha-
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Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geht noch
auf dem Boden der Anschauung vor, oder erhebt sich aus ihr.
Die Seele, sich von der äußern Anschauung abwendend und in
sich kehrend, ihren Gedächtnißbesitz von Anschauungen wahr-
nehmend, wird zur Anschauung ihrer Anschauungen. Und so
bestimmen wir die erste Stufe des Selbstbewußtseins als An-
schauung der Anschauung.
§. 93. Instinctives Selbstbewußtsein.
Dieses erste Erwachen des Selbstbewußtseins geschieht aber
selbst noch ohne Bewußtsein. Es ist das unbewußte Selbstbe-
wußtsein, und das nennen wir das instinctive Selbstbe-
wußtsein. Der Mensch hat einen instinctiven Verstand, ver-
möge dessen er urtheilt und schließt. Wir sagten oben, es fühle
der Mensch unmittelbar; empfinden aber müsse er lernen durch
Erfahrung. Wir sehen z. B. bloß Flächen, keine Körper; wir
sehen Körper, aber keine Entfernungen, d. h. leere Räume. Wir
lernen jedoch, durch mancherlei Erfahrungen, Schlüsse und Ur-
theile, einen Kreis und eine Kugel, ein Quadrat und einen Wür-
fel unterscheiden. Doch dieses ganze experimentirende Nach-
denken, wodurch die ersten Erkenntnisse räumlicher Verhältnisse
erworben werden, wodurch wir lernen die Hand nach dem Munde
oder nach dem Fuße zu führen, was alles nicht unmittelbar ge-
geben ist, sondern gelernt werden muß: dieses Nachdenken sage
ich, geschieht bewußtlos; es ist instinctiver Verstand, der In-
stinct des Menschen. Dem Thiere scheint dieser Instinct zu
fehlen und durch den unmittelbarer wirkenden leiblichen Instinct
ersetzt zu sein. Daher das Thier alles das, was der Mensch
durch seinen instinctiven Verstand langsam erwirbt, viel schnel-
ler erlangt.
Zum menschlichen Instincte gehören außer der Ergänzung
der Empfindungen zu wahren Empfindungserkenntnissen alle jene
sogenannten angeborenen Ideen; und man sieht also, wie beide
Parteien, sowohl die, welche dieselben annahmen, als auch die,
welche behaupteten, sie würden erst später als Werk der Cultur
gebildet, im Irrthume waren. Jene Grundideen der menschli-
chen Erkenntniß werden dem Menschen nicht so angeboren, wie
seine Glieder, wie den Thieren die instinctive Kunstfertigkeit;
sie werden aber auch nicht mit Bewußtsein durch Verstandes-
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/336>, abgerufen am 23.11.2024.
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