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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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empfinden, sondern mit dem besondern Ausdruck sehen, hö-
ren
u. s. w. bezeichnet. Nichtsdestoweniger muß der Psycholog,
wenn er sich allgemein ausdrücken will, sagen, die Farbe, die
Form des Dreiecks, ein Ton, werde empfunden, auch die Dauer
des Tons. Der Inhalt der Empfindung sind also sinn-
liche Qualitäten und die Verhältnisse des Raumes
und der Zeit
.

Dinge werden nicht empfunden; sondern man hat eine An-
schauung
von den Dingen. Die Anschauung von einem Dinge
ist der Complex der sämmtlichen Empfindungserkenntnisse, die
wir von diesem Dinge haben. Man sieht die Farbe und Form
des Tisches; der Gefühlssinn lehrt uns seine Härte, Schwere,
das Gehör seinen Klang: alles zusammen liefert die Anschauung
davon. Die Empfindung, weil sie ihre Erkenntnisse durch ver-
einzelte Organe giebt, verfährt allerdings analytisch; die An-
schauung ist eine Synthesis, aber eine unmittelbare, die durch
die Einheit der Seele gegeben ist. In der Anschauung liegt im-
mer eine Mannigfaltigkeit; denn das Einfache wird bloß em-
pfunden. Das von der Empfindung gelieferte verschiedene Ein-
zelne schmilzt unmittelbar, vermöge des einheitlichen Wesens
der Seele, synthetisch zur Anschauung zusammen. Zu dem in
der Anschauung schon gebildeten Complex von Qualitäten kön-
nen neue Empfindungserkenntnisse hinzutreten, die ebenfalls in
gleicher Unmittelbarkeit sich synthetisch der Anschauung hin-
zufügen *).

*) Wir nehmen also das Wort Anschauung nach seiner sinnlichen Be-
deutung, wie sie auch der Etymologie nahe steht oder vielleicht ganz gleich-
kommt. Im Hebräischen und Chinesischen bedeutet sehen überhaupt sinnlich
wahrnehmen. Man sollte die Anschauung in dieser niedrigen Bedeutung las-
sen. Man spricht wohl auch von der allgemeinen Anschauung der Natur, des
griechischen Lebens, u. s. w. Dafür aber sollte man das Wort Idee verwenden,
und diese nicht, nach französischer und englischer Weise, von ihrer Höhe zur
gemeinen Vorstellung herabziehen. Auch die Unterscheidung der Idee von Be-
griff
ist nicht schwer. Dieser drückt das allgemeine, noch abstracte, Princip
aus. Ihm wohnt allerdings die schöpferische Kraft inne, die Wirklichkeit zu
schaffen; aber erst die Erkenntniß des verwirklichten, nach allen Seiten in
vielen einzelnen Schöpfungen entwickelten Begriffs liefert die Idee. Der Be-
griff des Rechts z. B. ist der Ausgangspunkt sowohl der Schöpfung aller Rechts-
bestimmungen und Gerechtigkeitsanstalten eines Volkes oder Gesetzgebers, als
der Forschung und Darstellung des Rechtsgelehrten; die Idee des Rechts ist
das in der Breite seiner Entwicklung begriffene Recht, das Gesammtergebniß
der Rechtswissenschaft. Der Begriff ist abstract, die Idee ist dessen Verwirk-

empfinden, sondern mit dem besondern Ausdruck sehen, hö-
ren
u. s. w. bezeichnet. Nichtsdestoweniger muß der Psycholog,
wenn er sich allgemein ausdrücken will, sagen, die Farbe, die
Form des Dreiecks, ein Ton, werde empfunden, auch die Dauer
des Tons. Der Inhalt der Empfindung sind also sinn-
liche Qualitäten und die Verhältnisse des Raumes
und der Zeit
.

Dinge werden nicht empfunden; sondern man hat eine An-
schauung
von den Dingen. Die Anschauung von einem Dinge
ist der Complex der sämmtlichen Empfindungserkenntnisse, die
wir von diesem Dinge haben. Man sieht die Farbe und Form
des Tisches; der Gefühlssinn lehrt uns seine Härte, Schwere,
das Gehör seinen Klang: alles zusammen liefert die Anschauung
davon. Die Empfindung, weil sie ihre Erkenntnisse durch ver-
einzelte Organe giebt, verfährt allerdings analytisch; die An-
schauung ist eine Synthesis, aber eine unmittelbare, die durch
die Einheit der Seele gegeben ist. In der Anschauung liegt im-
mer eine Mannigfaltigkeit; denn das Einfache wird bloß em-
pfunden. Das von der Empfindung gelieferte verschiedene Ein-
zelne schmilzt unmittelbar, vermöge des einheitlichen Wesens
der Seele, synthetisch zur Anschauung zusammen. Zu dem in
der Anschauung schon gebildeten Complex von Qualitäten kön-
nen neue Empfindungserkenntnisse hinzutreten, die ebenfalls in
gleicher Unmittelbarkeit sich synthetisch der Anschauung hin-
zufügen *).

*) Wir nehmen also das Wort Anschauung nach seiner sinnlichen Be-
deutung, wie sie auch der Etymologie nahe steht oder vielleicht ganz gleich-
kommt. Im Hebräischen und Chinesischen bedeutet sehen überhaupt sinnlich
wahrnehmen. Man sollte die Anschauung in dieser niedrigen Bedeutung las-
sen. Man spricht wohl auch von der allgemeinen Anschauung der Natur, des
griechischen Lebens, u. s. w. Dafür aber sollte man das Wort Idee verwenden,
und diese nicht, nach französischer und englischer Weise, von ihrer Höhe zur
gemeinen Vorstellung herabziehen. Auch die Unterscheidung der Idee von Be-
griff
ist nicht schwer. Dieser drückt das allgemeine, noch abstracte, Princip
aus. Ihm wohnt allerdings die schöpferische Kraft inne, die Wirklichkeit zu
schaffen; aber erst die Erkenntniß des verwirklichten, nach allen Seiten in
vielen einzelnen Schöpfungen entwickelten Begriffs liefert die Idee. Der Be-
griff des Rechts z. B. ist der Ausgangspunkt sowohl der Schöpfung aller Rechts-
bestimmungen und Gerechtigkeitsanstalten eines Volkes oder Gesetzgebers, als
der Forschung und Darstellung des Rechtsgelehrten; die Idee des Rechts ist
das in der Breite seiner Entwicklung begriffene Recht, das Gesammtergebniß
der Rechtswissenschaft. Der Begriff ist abstract, die Idee ist dessen Verwirk-
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[260/0298] empfinden, sondern mit dem besondern Ausdruck sehen, hö- ren u. s. w. bezeichnet. Nichtsdestoweniger muß der Psycholog, wenn er sich allgemein ausdrücken will, sagen, die Farbe, die Form des Dreiecks, ein Ton, werde empfunden, auch die Dauer des Tons. Der Inhalt der Empfindung sind also sinn- liche Qualitäten und die Verhältnisse des Raumes und der Zeit. Dinge werden nicht empfunden; sondern man hat eine An- schauung von den Dingen. Die Anschauung von einem Dinge ist der Complex der sämmtlichen Empfindungserkenntnisse, die wir von diesem Dinge haben. Man sieht die Farbe und Form des Tisches; der Gefühlssinn lehrt uns seine Härte, Schwere, das Gehör seinen Klang: alles zusammen liefert die Anschauung davon. Die Empfindung, weil sie ihre Erkenntnisse durch ver- einzelte Organe giebt, verfährt allerdings analytisch; die An- schauung ist eine Synthesis, aber eine unmittelbare, die durch die Einheit der Seele gegeben ist. In der Anschauung liegt im- mer eine Mannigfaltigkeit; denn das Einfache wird bloß em- pfunden. Das von der Empfindung gelieferte verschiedene Ein- zelne schmilzt unmittelbar, vermöge des einheitlichen Wesens der Seele, synthetisch zur Anschauung zusammen. Zu dem in der Anschauung schon gebildeten Complex von Qualitäten kön- nen neue Empfindungserkenntnisse hinzutreten, die ebenfalls in gleicher Unmittelbarkeit sich synthetisch der Anschauung hin- zufügen *). *) Wir nehmen also das Wort Anschauung nach seiner sinnlichen Be- deutung, wie sie auch der Etymologie nahe steht oder vielleicht ganz gleich- kommt. Im Hebräischen und Chinesischen bedeutet sehen überhaupt sinnlich wahrnehmen. Man sollte die Anschauung in dieser niedrigen Bedeutung las- sen. Man spricht wohl auch von der allgemeinen Anschauung der Natur, des griechischen Lebens, u. s. w. Dafür aber sollte man das Wort Idee verwenden, und diese nicht, nach französischer und englischer Weise, von ihrer Höhe zur gemeinen Vorstellung herabziehen. Auch die Unterscheidung der Idee von Be- griff ist nicht schwer. Dieser drückt das allgemeine, noch abstracte, Princip aus. Ihm wohnt allerdings die schöpferische Kraft inne, die Wirklichkeit zu schaffen; aber erst die Erkenntniß des verwirklichten, nach allen Seiten in vielen einzelnen Schöpfungen entwickelten Begriffs liefert die Idee. Der Be- griff des Rechts z. B. ist der Ausgangspunkt sowohl der Schöpfung aller Rechts- bestimmungen und Gerechtigkeitsanstalten eines Volkes oder Gesetzgebers, als der Forschung und Darstellung des Rechtsgelehrten; die Idee des Rechts ist das in der Breite seiner Entwicklung begriffene Recht, das Gesammtergebniß der Rechtswissenschaft. Der Begriff ist abstract, die Idee ist dessen Verwirk-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/298>, abgerufen am 25.11.2024.