Das sogenannte Selbstdenken ist aber vielmehr ein Selbst- sehen und Selbstbetasten; und wie könnte es nun an Adepten dieser Doctrin fehlen, die so streng sind, die Existenz Ameri- kas und Napoleons zu läugnen; denn sie haben beide nicht selbst gesehen.
Es fehlt diesen Herren an dem ABC der Psychologie und der geschichtlichen Anschauung. Sie bilden sich ein, es genüge, um ein tiefer Selbstdenker zu werden, daß man sich eines schö- nen Morgens niedersetzt und zu sich spricht: ich will selbstden- ken, ich will zweifeln. Da werden denn Sonne, Mond und Sterne verpufft, Himmel und Erde bei Seite gezweifelt, um alles so- gleich darauf doch wieder anzuerkennen -- aber selbstden- kend!
Wüßten die Herren etwas von Geschichte, so wüßten sie, daß wir seit Bacon und Descartes über diese Skepsis hinaus sind. Sie würden wissen, daß seit jener Zeit jedes Menschen- alter schrie: "Kritik, Kritik! ja wir, wir sind nicht wie unsere Väter, kein Autoritätsglaube mehr; wir leben im Zeitalter der Kritik, wir sind nicht mehr im Mittelalter, wir!" Und indem man zu jeder Zeit so schrie, verurtheilte jede die vorangegan- gene als unkritisch.
Fern von uns, in solche Lächerlichkeit mit einzustimmen! Wir wissen, daß jede Zeit so denkt, wie sie denken kann, den- ken muß. Die Kritik weiß, daß mit solchem Vorsatz, einmal alles zu bezweifeln, noch nicht das Mindeste geschehen ist, und daß man dadurch nicht zur Erkenntniß und Ablegung des klein- sten oder größten Irrthums kommt; daß alle Irrthümer eben Erzeugniß des Selbstdenkens sind. Die Kritik weiß: "Denken ist schwer," und vollkommenes, absolutes Denken unmöglich. Behutsam ist der Kritiker, und nennt man dies zweifeln, so be- tonen wir stark, daß er vor allem räth, am eigenen Zweifel zu zweifeln. Das dürfte jenen Skeptikern wohl nie in den Sinn gekommen sein, daß nichts zweifelhafter ist, als ihr Zweifel.
Ist denn nicht, höre ich fragen, die Bezweiflung des Zwei- fels eine doppelte Negation, also eine Bejahung des Dogmatis- mus? -- Das will uns eine sophistische Dialektik einreden; dem
Das sogenannte Selbstdenken ist aber vielmehr ein Selbst- sehen und Selbstbetasten; und wie könnte es nun an Adepten dieser Doctrin fehlen, die so streng sind, die Existenz Ameri- kas und Napoleons zu läugnen; denn sie haben beide nicht selbst gesehen.
Es fehlt diesen Herren an dem ABC der Psychologie und der geschichtlichen Anschauung. Sie bilden sich ein, es genüge, um ein tiefer Selbstdenker zu werden, daß man sich eines schö- nen Morgens niedersetzt und zu sich spricht: ich will selbstden- ken, ich will zweifeln. Da werden denn Sonne, Mond und Sterne verpufft, Himmel und Erde bei Seite gezweifelt, um alles so- gleich darauf doch wieder anzuerkennen — aber selbstden- kend!
Wüßten die Herren etwas von Geschichte, so wüßten sie, daß wir seit Bacon und Descartes über diese Skepsis hinaus sind. Sie würden wissen, daß seit jener Zeit jedes Menschen- alter schrie: „Kritik, Kritik! ja wir, wir sind nicht wie unsere Väter, kein Autoritätsglaube mehr; wir leben im Zeitalter der Kritik, wir sind nicht mehr im Mittelalter, wir!“ Und indem man zu jeder Zeit so schrie, verurtheilte jede die vorangegan- gene als unkritisch.
Fern von uns, in solche Lächerlichkeit mit einzustimmen! Wir wissen, daß jede Zeit so denkt, wie sie denken kann, den- ken muß. Die Kritik weiß, daß mit solchem Vorsatz, einmal alles zu bezweifeln, noch nicht das Mindeste geschehen ist, und daß man dadurch nicht zur Erkenntniß und Ablegung des klein- sten oder größten Irrthums kommt; daß alle Irrthümer eben Erzeugniß des Selbstdenkens sind. Die Kritik weiß: „Denken ist schwer,“ und vollkommenes, absolutes Denken unmöglich. Behutsam ist der Kritiker, und nennt man dies zweifeln, so be- tonen wir stark, daß er vor allem räth, am eigenen Zweifel zu zweifeln. Das dürfte jenen Skeptikern wohl nie in den Sinn gekommen sein, daß nichts zweifelhafter ist, als ihr Zweifel.
Ist denn nicht, höre ich fragen, die Bezweiflung des Zwei- fels eine doppelte Negation, also eine Bejahung des Dogmatis- mus? — Das will uns eine sophistische Dialektik einreden; dem
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[XVIII/0024]
Das sogenannte Selbstdenken ist aber vielmehr ein Selbst-
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dieser Doctrin fehlen, die so streng sind, die Existenz Ameri-
kas und Napoleons zu läugnen; denn sie haben beide nicht selbst
gesehen.
Es fehlt diesen Herren an dem ABC der Psychologie und
der geschichtlichen Anschauung. Sie bilden sich ein, es genüge,
um ein tiefer Selbstdenker zu werden, daß man sich eines schö-
nen Morgens niedersetzt und zu sich spricht: ich will selbstden-
ken, ich will zweifeln. Da werden denn Sonne, Mond und Sterne
verpufft, Himmel und Erde bei Seite gezweifelt, um alles so-
gleich darauf doch wieder anzuerkennen — aber selbstden-
kend!
Wüßten die Herren etwas von Geschichte, so wüßten sie,
daß wir seit Bacon und Descartes über diese Skepsis hinaus
sind. Sie würden wissen, daß seit jener Zeit jedes Menschen-
alter schrie: „Kritik, Kritik! ja wir, wir sind nicht wie unsere
Väter, kein Autoritätsglaube mehr; wir leben im Zeitalter der
Kritik, wir sind nicht mehr im Mittelalter, wir!“ Und indem
man zu jeder Zeit so schrie, verurtheilte jede die vorangegan-
gene als unkritisch.
Fern von uns, in solche Lächerlichkeit mit einzustimmen!
Wir wissen, daß jede Zeit so denkt, wie sie denken kann, den-
ken muß. Die Kritik weiß, daß mit solchem Vorsatz, einmal
alles zu bezweifeln, noch nicht das Mindeste geschehen ist, und
daß man dadurch nicht zur Erkenntniß und Ablegung des klein-
sten oder größten Irrthums kommt; daß alle Irrthümer eben
Erzeugniß des Selbstdenkens sind. Die Kritik weiß: „Denken
ist schwer,“ und vollkommenes, absolutes Denken unmöglich.
Behutsam ist der Kritiker, und nennt man dies zweifeln, so be-
tonen wir stark, daß er vor allem räth, am eigenen Zweifel zu
zweifeln. Das dürfte jenen Skeptikern wohl nie in den Sinn
gekommen sein, daß nichts zweifelhafter ist, als ihr Zweifel.
Ist denn nicht, höre ich fragen, die Bezweiflung des Zwei-
fels eine doppelte Negation, also eine Bejahung des Dogmatis-
mus? — Das will uns eine sophistische Dialektik einreden; dem
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/24>, abgerufen am 04.02.2025.
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