Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

stirt, wiewohl man das ganze Mittelalter hindurch viel expe-
rimentirt hat und sogar zu allen Zeiten und an allen Orten,
selbst unter den Wilden, chemische Erfahrungen hatte. Gerade
die Theorie war es, die Verstand und Vernunft in diese sinnlo-
sen Experimente brachte; und vorzüglich auch mit der rationel-
len Entwickelung der Theorie ist die Chemie zu dieser "reich-
sten Entfaltung gelangt," deren sie sich heute erfreut. Ebenso,
wenn der Fortschritt der Physiologie und der medicinischen Wis-
senschaft in geradem Verhältnisse zu den Experimenten stünde,
welche man täglich am Krankenbette macht: wie glänzend würde
es um dieselbe stehen! Aber nicht das Experiment allein, sondern
auch die Theorie macht den Fortschritt. Auch Newton über-
trifft Kepler dadurch, daß er zu seiner Beobachtung die Theo-
rie brachte. Doch hören wir nach obigem Wie auch das So:
"so wird die Sprachwissenschaft erst dann zu wahrem Gedeihen
gelangen, wenn mehr und mehr das Erfahrungsmäßige in der-
selben zum Bewußtsein gebracht sein wird." Schwerlich hat
sich Hr. Aufrecht klar gemacht, was er hier gesagt hat. Denn
wenn die Erfahrung zum Bewußtsein gebracht werden soll, so
geschieht dies eben nur durch die Theorie. Hr. Aufrecht wollte
freilich sagen, das Heil der Sprachwissenschaft hänge davon ab,
daß man wisse, sie sei empirisch. So fragen wir denn, war
etwa die Grammatik nicht zu allen Zeiten empirisch? War es
nicht besonders auch die Theorie, welche die neue Sprachwis-
senschaft schuf? war es nicht die tiefere philosophische Ansicht
vom Wesen der Sprache? War Bopp, der Gründer der verglei-
chenden Grammatik, der erste Sanskritist? Verstand vor Grimm,
dem Gründer der historischen Grammatik, niemand altdeutsch
und die beiden classischen Sprachen? -- Hr. Aufrecht fährt fort:
"Apriorische Theorien" -- giebt es deren denn? -- haben von
jeher die Wissenschaft nicht gefördert, sondern sie zuweilen ganze
Jahrhunderte gehemmt." Ein Beispiel, wenn's beliebt! nur eins!
Wo wuchern denn die Theorien? nicht unter den Empirikern?
Wenn die Annahme einer besondern Lebenskraft z. B. der Phy-
siologie geschadet, waren es nicht Empiriker, welche sie hegten?
sind es nicht Philosophen, welche sie verbannen?

Endlich aber, wenn Hr. Aufrecht die Elemente der wahren

stirt, wiewohl man das ganze Mittelalter hindurch viel expe-
rimentirt hat und sogar zu allen Zeiten und an allen Orten,
selbst unter den Wilden, chemische Erfahrungen hatte. Gerade
die Theorie war es, die Verstand und Vernunft in diese sinnlo-
sen Experimente brachte; und vorzüglich auch mit der rationel-
len Entwickelung der Theorie ist die Chemie zu dieser „reich-
sten Entfaltung gelangt,“ deren sie sich heute erfreut. Ebenso,
wenn der Fortschritt der Physiologie und der medicinischen Wis-
senschaft in geradem Verhältnisse zu den Experimenten stünde,
welche man täglich am Krankenbette macht: wie glänzend würde
es um dieselbe stehen! Aber nicht das Experiment allein, sondern
auch die Theorie macht den Fortschritt. Auch Newton über-
trifft Kepler dadurch, daß er zu seiner Beobachtung die Theo-
rie brachte. Doch hören wir nach obigem Wie auch das So:
„so wird die Sprachwissenschaft erst dann zu wahrem Gedeihen
gelangen, wenn mehr und mehr das Erfahrungsmäßige in der-
selben zum Bewußtsein gebracht sein wird.“ Schwerlich hat
sich Hr. Aufrecht klar gemacht, was er hier gesagt hat. Denn
wenn die Erfahrung zum Bewußtsein gebracht werden soll, so
geschieht dies eben nur durch die Theorie. Hr. Aufrecht wollte
freilich sagen, das Heil der Sprachwissenschaft hänge davon ab,
daß man wisse, sie sei empirisch. So fragen wir denn, war
etwa die Grammatik nicht zu allen Zeiten empirisch? War es
nicht besonders auch die Theorie, welche die neue Sprachwis-
senschaft schuf? war es nicht die tiefere philosophische Ansicht
vom Wesen der Sprache? War Bopp, der Gründer der verglei-
chenden Grammatik, der erste Sanskritist? Verstand vor Grimm,
dem Gründer der historischen Grammatik, niemand altdeutsch
und die beiden classischen Sprachen? — Hr. Aufrecht fährt fort:
„Apriorische Theorien“ — giebt es deren denn? — haben von
jeher die Wissenschaft nicht gefördert, sondern sie zuweilen ganze
Jahrhunderte gehemmt.“ Ein Beispiel, wenn’s beliebt! nur eins!
Wo wuchern denn die Theorien? nicht unter den Empirikern?
Wenn die Annahme einer besondern Lebenskraft z. B. der Phy-
siologie geschadet, waren es nicht Empiriker, welche sie hegten?
sind es nicht Philosophen, welche sie verbannen?

Endlich aber, wenn Hr. Aufrecht die Elemente der wahren

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0021" n="XV"/>
stirt, wiewohl man das ganze Mittelalter hindurch viel expe-<lb/>
rimentirt hat und sogar zu allen Zeiten und an allen Orten,<lb/>
selbst unter den Wilden, chemische Erfahrungen hatte. Gerade<lb/>
die Theorie war es, die Verstand und Vernunft in diese sinnlo-<lb/>
sen Experimente brachte; und vorzüglich auch mit der rationel-<lb/>
len Entwickelung der Theorie ist die Chemie zu dieser &#x201E;reich-<lb/>
sten Entfaltung gelangt,&#x201C; deren sie sich heute erfreut. Ebenso,<lb/>
wenn der Fortschritt der Physiologie und der medicinischen Wis-<lb/>
senschaft in geradem Verhältnisse zu den Experimenten stünde,<lb/>
welche man täglich am Krankenbette macht: wie glänzend würde<lb/>
es um dieselbe stehen! Aber nicht das Experiment allein, sondern<lb/>
auch die Theorie macht den Fortschritt. Auch Newton über-<lb/>
trifft Kepler dadurch, daß er zu seiner Beobachtung die Theo-<lb/>
rie brachte. Doch hören wir nach obigem Wie auch das So:<lb/>
&#x201E;so wird die Sprachwissenschaft erst dann zu wahrem Gedeihen<lb/>
gelangen, wenn mehr und mehr das Erfahrungsmäßige in der-<lb/>
selben zum Bewußtsein gebracht sein wird.&#x201C; Schwerlich hat<lb/>
sich Hr. Aufrecht klar gemacht, was er hier gesagt hat. Denn<lb/>
wenn die Erfahrung zum Bewußtsein gebracht werden soll, so<lb/>
geschieht dies eben nur durch die Theorie. Hr. Aufrecht wollte<lb/>
freilich sagen, das Heil der Sprachwissenschaft hänge davon ab,<lb/>
daß man wisse, sie sei empirisch. So fragen wir denn, war<lb/>
etwa die Grammatik nicht zu allen Zeiten empirisch? War es<lb/>
nicht besonders auch die Theorie, welche die neue Sprachwis-<lb/>
senschaft schuf? war es nicht die tiefere philosophische Ansicht<lb/>
vom Wesen der Sprache? War Bopp, der Gründer der verglei-<lb/>
chenden Grammatik, der erste Sanskritist? Verstand vor Grimm,<lb/>
dem Gründer der historischen Grammatik, niemand altdeutsch<lb/>
und die beiden classischen Sprachen? &#x2014; Hr. Aufrecht fährt fort:<lb/>
&#x201E;Apriorische Theorien&#x201C; &#x2014; giebt es deren denn? &#x2014; haben von<lb/>
jeher die Wissenschaft nicht gefördert, sondern sie zuweilen ganze<lb/>
Jahrhunderte gehemmt.&#x201C; Ein Beispiel, wenn&#x2019;s beliebt! nur eins!<lb/>
Wo wuchern denn die Theorien? nicht unter den Empirikern?<lb/>
Wenn die Annahme einer besondern Lebenskraft z. B. der Phy-<lb/>
siologie geschadet, waren es nicht Empiriker, welche sie hegten?<lb/>
sind es nicht Philosophen, welche sie verbannen?</p><lb/>
        <p>Endlich aber, wenn Hr. Aufrecht die Elemente der wahren<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XV/0021] stirt, wiewohl man das ganze Mittelalter hindurch viel expe- rimentirt hat und sogar zu allen Zeiten und an allen Orten, selbst unter den Wilden, chemische Erfahrungen hatte. Gerade die Theorie war es, die Verstand und Vernunft in diese sinnlo- sen Experimente brachte; und vorzüglich auch mit der rationel- len Entwickelung der Theorie ist die Chemie zu dieser „reich- sten Entfaltung gelangt,“ deren sie sich heute erfreut. Ebenso, wenn der Fortschritt der Physiologie und der medicinischen Wis- senschaft in geradem Verhältnisse zu den Experimenten stünde, welche man täglich am Krankenbette macht: wie glänzend würde es um dieselbe stehen! Aber nicht das Experiment allein, sondern auch die Theorie macht den Fortschritt. Auch Newton über- trifft Kepler dadurch, daß er zu seiner Beobachtung die Theo- rie brachte. Doch hören wir nach obigem Wie auch das So: „so wird die Sprachwissenschaft erst dann zu wahrem Gedeihen gelangen, wenn mehr und mehr das Erfahrungsmäßige in der- selben zum Bewußtsein gebracht sein wird.“ Schwerlich hat sich Hr. Aufrecht klar gemacht, was er hier gesagt hat. Denn wenn die Erfahrung zum Bewußtsein gebracht werden soll, so geschieht dies eben nur durch die Theorie. Hr. Aufrecht wollte freilich sagen, das Heil der Sprachwissenschaft hänge davon ab, daß man wisse, sie sei empirisch. So fragen wir denn, war etwa die Grammatik nicht zu allen Zeiten empirisch? War es nicht besonders auch die Theorie, welche die neue Sprachwis- senschaft schuf? war es nicht die tiefere philosophische Ansicht vom Wesen der Sprache? War Bopp, der Gründer der verglei- chenden Grammatik, der erste Sanskritist? Verstand vor Grimm, dem Gründer der historischen Grammatik, niemand altdeutsch und die beiden classischen Sprachen? — Hr. Aufrecht fährt fort: „Apriorische Theorien“ — giebt es deren denn? — haben von jeher die Wissenschaft nicht gefördert, sondern sie zuweilen ganze Jahrhunderte gehemmt.“ Ein Beispiel, wenn’s beliebt! nur eins! Wo wuchern denn die Theorien? nicht unter den Empirikern? Wenn die Annahme einer besondern Lebenskraft z. B. der Phy- siologie geschadet, waren es nicht Empiriker, welche sie hegten? sind es nicht Philosophen, welche sie verbannen? Endlich aber, wenn Hr. Aufrecht die Elemente der wahren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/21
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. XV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/21>, abgerufen am 24.11.2024.