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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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zu Ende, und das heißt sehr oft bis zum Greisenalter und zum
Tode, in einer sprachlosen Zeichenliteratur durchlaufen, die über-
dies wegen der Form und wegen des Inhalts die allgemeinste
höchste Verehrung genießt; wenn man solche Literatur nicht
nur unausgesetzt studirt, sondern auch unaufhörlich seine eige-
nen Gedanken nach dem Muster derselben darzustellen sich be-
müht; wenn aller Umgang nur mit Männern geschieht, die ge-
rade eben so ihre intellectuelle Bildung erworben haben, und
alle Unterhaltung, ernste und heitere, sich um die alte Literatur
bewegt und tausendfach auf sie anspielt, auch im Ausdruck sich
ihr nähert: wie muß nicht in einer solchen Intelligenz das Ver-
hältniß von Denken und Sprechen ganz anders sein, als dies
bei uns Statt findet! Man nenne nur immerhin ein solches Ver-
hältniß unorganisch. Damit hat man nur nichts erklärt, und
hat sogar einen Unsinn ausgesprochen. Denn ein organisches
Wesen ist entweder, und dann ist es nothwendig organisch;
oder es ist gar nicht: so ist es doch niemals unorganisch.

Endlich noch ein Beispiel, das viel näher liegt, als das der
chinesischen Sprache und Schrift, und doch mit ihm die größte
Aehnlichkeit hat. Es wird gewiß Vielen, die nur englische
Schriften gelesen, aber nicht englisch gesprochen haben, eben so
gehen wie mir, daß sie nämlich, wenn sie englisch hören, sich
das Gehörte schnell als geschrieben vergegenwärtigen und so
erst verstehen, d. h. den Gedanken auffassen. Das rührt von
der Verschiedenheit zwischen Schreibung und Aussprache und
der Gewöhnung her, immer die Schreibung dem Geiste gegen-
wärtig zu haben. Ich denke, dies beweist, daß, wenn man eng-
lisch zu uns spricht, wir nicht in englischen Lauten, sondern in
englischer Schrift denken; daß folglich Denken und Sprechen
wohl zertrennlich und also noch mehr verschieden sind.

§. 63. Verschiedenheit von Denken und Sprechen, bewiesen durch Reflexion.

Wir haben uns im Vorhergehenden auf Thatsachen beru-
fen. Wir fügen nun noch folgende Reflexion hinzu. Die Fä-
higkeit, eine fremde Sprache verstehen und sprechen zu lernen,
beweist schon mindestens die Möglichkeit, meine Gedanken von
meiner Sprache abzulösen. Ja, Uebersetzungen wären sonst rein
unmöglich. Man meint aber, indem dem Gedanken eine Sprache
genommen wird, so werde ihm ja dafür sogleich die andere un-
tergeschoben, und es werde nicht die organische Einheit des
Gedankens mit der einzelnen Sprache, sondern mit der Sprache

zu Ende, und das heißt sehr oft bis zum Greisenalter und zum
Tode, in einer sprachlosen Zeichenliteratur durchlaufen, die über-
dies wegen der Form und wegen des Inhalts die allgemeinste
höchste Verehrung genießt; wenn man solche Literatur nicht
nur unausgesetzt studirt, sondern auch unaufhörlich seine eige-
nen Gedanken nach dem Muster derselben darzustellen sich be-
müht; wenn aller Umgang nur mit Männern geschieht, die ge-
rade eben so ihre intellectuelle Bildung erworben haben, und
alle Unterhaltung, ernste und heitere, sich um die alte Literatur
bewegt und tausendfach auf sie anspielt, auch im Ausdruck sich
ihr nähert: wie muß nicht in einer solchen Intelligenz das Ver-
hältniß von Denken und Sprechen ganz anders sein, als dies
bei uns Statt findet! Man nenne nur immerhin ein solches Ver-
hältniß unorganisch. Damit hat man nur nichts erklärt, und
hat sogar einen Unsinn ausgesprochen. Denn ein organisches
Wesen ist entweder, und dann ist es nothwendig organisch;
oder es ist gar nicht: so ist es doch niemals unorganisch.

Endlich noch ein Beispiel, das viel näher liegt, als das der
chinesischen Sprache und Schrift, und doch mit ihm die größte
Aehnlichkeit hat. Es wird gewiß Vielen, die nur englische
Schriften gelesen, aber nicht englisch gesprochen haben, eben so
gehen wie mir, daß sie nämlich, wenn sie englisch hören, sich
das Gehörte schnell als geschrieben vergegenwärtigen und so
erst verstehen, d. h. den Gedanken auffassen. Das rührt von
der Verschiedenheit zwischen Schreibung und Aussprache und
der Gewöhnung her, immer die Schreibung dem Geiste gegen-
wärtig zu haben. Ich denke, dies beweist, daß, wenn man eng-
lisch zu uns spricht, wir nicht in englischen Lauten, sondern in
englischer Schrift denken; daß folglich Denken und Sprechen
wohl zertrennlich und also noch mehr verschieden sind.

§. 63. Verschiedenheit von Denken und Sprechen, bewiesen durch Reflexion.

Wir haben uns im Vorhergehenden auf Thatsachen beru-
fen. Wir fügen nun noch folgende Reflexion hinzu. Die Fä-
higkeit, eine fremde Sprache verstehen und sprechen zu lernen,
beweist schon mindestens die Möglichkeit, meine Gedanken von
meiner Sprache abzulösen. Ja, Uebersetzungen wären sonst rein
unmöglich. Man meint aber, indem dem Gedanken eine Sprache
genommen wird, so werde ihm ja dafür sogleich die andere un-
tergeschoben, und es werde nicht die organische Einheit des
Gedankens mit der einzelnen Sprache, sondern mit der Sprache

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[158/0196] zu Ende, und das heißt sehr oft bis zum Greisenalter und zum Tode, in einer sprachlosen Zeichenliteratur durchlaufen, die über- dies wegen der Form und wegen des Inhalts die allgemeinste höchste Verehrung genießt; wenn man solche Literatur nicht nur unausgesetzt studirt, sondern auch unaufhörlich seine eige- nen Gedanken nach dem Muster derselben darzustellen sich be- müht; wenn aller Umgang nur mit Männern geschieht, die ge- rade eben so ihre intellectuelle Bildung erworben haben, und alle Unterhaltung, ernste und heitere, sich um die alte Literatur bewegt und tausendfach auf sie anspielt, auch im Ausdruck sich ihr nähert: wie muß nicht in einer solchen Intelligenz das Ver- hältniß von Denken und Sprechen ganz anders sein, als dies bei uns Statt findet! Man nenne nur immerhin ein solches Ver- hältniß unorganisch. Damit hat man nur nichts erklärt, und hat sogar einen Unsinn ausgesprochen. Denn ein organisches Wesen ist entweder, und dann ist es nothwendig organisch; oder es ist gar nicht: so ist es doch niemals unorganisch. Endlich noch ein Beispiel, das viel näher liegt, als das der chinesischen Sprache und Schrift, und doch mit ihm die größte Aehnlichkeit hat. Es wird gewiß Vielen, die nur englische Schriften gelesen, aber nicht englisch gesprochen haben, eben so gehen wie mir, daß sie nämlich, wenn sie englisch hören, sich das Gehörte schnell als geschrieben vergegenwärtigen und so erst verstehen, d. h. den Gedanken auffassen. Das rührt von der Verschiedenheit zwischen Schreibung und Aussprache und der Gewöhnung her, immer die Schreibung dem Geiste gegen- wärtig zu haben. Ich denke, dies beweist, daß, wenn man eng- lisch zu uns spricht, wir nicht in englischen Lauten, sondern in englischer Schrift denken; daß folglich Denken und Sprechen wohl zertrennlich und also noch mehr verschieden sind. §. 63. Verschiedenheit von Denken und Sprechen, bewiesen durch Reflexion. Wir haben uns im Vorhergehenden auf Thatsachen beru- fen. Wir fügen nun noch folgende Reflexion hinzu. Die Fä- higkeit, eine fremde Sprache verstehen und sprechen zu lernen, beweist schon mindestens die Möglichkeit, meine Gedanken von meiner Sprache abzulösen. Ja, Uebersetzungen wären sonst rein unmöglich. Man meint aber, indem dem Gedanken eine Sprache genommen wird, so werde ihm ja dafür sogleich die andere un- tergeschoben, und es werde nicht die organische Einheit des Gedankens mit der einzelnen Sprache, sondern mit der Sprache

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/196>, abgerufen am 27.11.2024.