Styles ist so umfangsreich wie irgend eine; sie ist ganz vorzüg- lich reich an Darstellung von Reflexionen und Gefühlen, beson- ders an Betrachtungen über die sittlichen Verhältnisse der mensch- lichen Gesellschaft; sie ist weniger beschreibend, sinnlich, an- schauungsvoll, als reflectirend, rein denkend; sie wird gepflegt und studirt mit demselben Fleiße, wie der chinesische Ackerbau, seit mehr denn zwei Jahrtausenden: und diese Literatur ist in der That keine sprachliche, sondern eine Zeichenliteratur; denn nicht sprechend wird sie mitgetheilt und hörend vernommen; sondern in Zeichen geschrieben, wird sie nur durch Auschauung aufgefaßt. Zwar hat jedes Zeichen einen Laut, mit dem es ausgesprochen wird; aber was kann das nützen, da dieser Laut, der das Zeichen trägt, bloß ausgesprochen, völlig unverständ- lich bleibt, das Zeichen aber, gesehen, beim ersten Blicke eine Vorstellung anregt? Hier redet also eine weite und tiefe Litera- tur nicht zum Ohre, sondern zum Auge; hier wird also gar nicht mit Lauten, sondern mit Schriftzeichen gedacht; und diese Literatur ist das höchste Erzeugniß des Geistes eines der älte- sten und cultivirtesten Völker der Erde.
Dies ist noch nicht alles. An einem andern Orte, wo ich den Charakter dieser Literatur weitläufiger dargelegt, habe ich auch gezeigt, daß diese Zeichen-Literatur durch die Eigen- thümlichkeit der chinesischen Sprache selbst veranlaßt wurde; daß diese, unfähig dem Gedanken bei seinem höhern Schwunge die nöthige Unterstützung zu geben, dazu zwang, eine andere Stütze zu suchen; daß sie, schon ursprünglich lose an den Ge- danken gebunden und nicht mit ihm verschmolzen, die Scheidung des Gedankens von ihr erleichterte.
Man überlege sich dies recht, und man wird finden, daß, so sehr auch das menschliche Denken immer und überall das- selbe ist, doch in dem hier besprochenen Falle in dem ersten Hülfsmittel des Denkens, in der Sprache, eine Verschiedenheit von dem regelmäßigen Verhältniß Statt findet, welche unmög- lich gleichgültig sein kann für die Weise des Denkens selbst, d. h. für diese psychologische Thätigkeit; und es liegt also hier der Psychologie einer der merkwürdigsten Gegenstände zur Be- trachtung vor. Denn wenn sich schon das erste Denken des Kindes an eine Sprache schließt, die nur ein unvollkommener Träger des Gedankens ist; wenn dann ferner der Knabe und das Mädchen ihren Unterricht und ihre Studien von Anfang bis
Styles ist so umfangsreich wie irgend eine; sie ist ganz vorzüg- lich reich an Darstellung von Reflexionen und Gefühlen, beson- ders an Betrachtungen über die sittlichen Verhältnisse der mensch- lichen Gesellschaft; sie ist weniger beschreibend, sinnlich, an- schauungsvoll, als reflectirend, rein denkend; sie wird gepflegt und studirt mit demselben Fleiße, wie der chinesische Ackerbau, seit mehr denn zwei Jahrtausenden: und diese Literatur ist in der That keine sprachliche, sondern eine Zeichenliteratur; denn nicht sprechend wird sie mitgetheilt und hörend vernommen; sondern in Zeichen geschrieben, wird sie nur durch Auschauung aufgefaßt. Zwar hat jedes Zeichen einen Laut, mit dem es ausgesprochen wird; aber was kann das nützen, da dieser Laut, der das Zeichen trägt, bloß ausgesprochen, völlig unverständ- lich bleibt, das Zeichen aber, gesehen, beim ersten Blicke eine Vorstellung anregt? Hier redet also eine weite und tiefe Litera- tur nicht zum Ohre, sondern zum Auge; hier wird also gar nicht mit Lauten, sondern mit Schriftzeichen gedacht; und diese Literatur ist das höchste Erzeugniß des Geistes eines der älte- sten und cultivirtesten Völker der Erde.
Dies ist noch nicht alles. An einem andern Orte, wo ich den Charakter dieser Literatur weitläufiger dargelegt, habe ich auch gezeigt, daß diese Zeichen-Literatur durch die Eigen- thümlichkeit der chinesischen Sprache selbst veranlaßt wurde; daß diese, unfähig dem Gedanken bei seinem höhern Schwunge die nöthige Unterstützung zu geben, dazu zwang, eine andere Stütze zu suchen; daß sie, schon ursprünglich lose an den Ge- danken gebunden und nicht mit ihm verschmolzen, die Scheidung des Gedankens von ihr erleichterte.
Man überlege sich dies recht, und man wird finden, daß, so sehr auch das menschliche Denken immer und überall das- selbe ist, doch in dem hier besprochenen Falle in dem ersten Hülfsmittel des Denkens, in der Sprache, eine Verschiedenheit von dem regelmäßigen Verhältniß Statt findet, welche unmög- lich gleichgültig sein kann für die Weise des Denkens selbst, d. h. für diese psychologische Thätigkeit; und es liegt also hier der Psychologie einer der merkwürdigsten Gegenstände zur Be- trachtung vor. Denn wenn sich schon das erste Denken des Kindes an eine Sprache schließt, die nur ein unvollkommener Träger des Gedankens ist; wenn dann ferner der Knabe und das Mädchen ihren Unterricht und ihre Studien von Anfang bis
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Styles ist so umfangsreich wie irgend eine; sie ist ganz vorzüg-
lich reich an Darstellung von Reflexionen und Gefühlen, beson-
ders an Betrachtungen über die sittlichen Verhältnisse der mensch-
lichen Gesellschaft; sie ist weniger beschreibend, sinnlich, an-
schauungsvoll, als reflectirend, rein denkend; sie wird gepflegt und
studirt mit demselben Fleiße, wie der chinesische Ackerbau,
seit mehr denn zwei Jahrtausenden: und diese Literatur ist in
der That keine sprachliche, sondern eine Zeichenliteratur; denn
nicht sprechend wird sie mitgetheilt und hörend vernommen;
sondern in Zeichen geschrieben, wird sie nur durch Auschauung
aufgefaßt. Zwar hat jedes Zeichen einen Laut, mit dem es
ausgesprochen wird; aber was kann das nützen, da dieser Laut,
der das Zeichen trägt, bloß ausgesprochen, völlig unverständ-
lich bleibt, das Zeichen aber, gesehen, beim ersten Blicke eine
Vorstellung anregt? Hier redet also eine weite und tiefe Litera-
tur nicht zum Ohre, sondern zum Auge; hier wird also gar
nicht mit Lauten, sondern mit Schriftzeichen gedacht; und diese
Literatur ist das höchste Erzeugniß des Geistes eines der älte-
sten und cultivirtesten Völker der Erde.
Dies ist noch nicht alles. An einem andern Orte, wo ich
den Charakter dieser Literatur weitläufiger dargelegt, habe ich
auch gezeigt, daß diese Zeichen-Literatur durch die Eigen-
thümlichkeit der chinesischen Sprache selbst veranlaßt wurde;
daß diese, unfähig dem Gedanken bei seinem höhern Schwunge
die nöthige Unterstützung zu geben, dazu zwang, eine andere
Stütze zu suchen; daß sie, schon ursprünglich lose an den Ge-
danken gebunden und nicht mit ihm verschmolzen, die Scheidung
des Gedankens von ihr erleichterte.
Man überlege sich dies recht, und man wird finden, daß,
so sehr auch das menschliche Denken immer und überall das-
selbe ist, doch in dem hier besprochenen Falle in dem ersten
Hülfsmittel des Denkens, in der Sprache, eine Verschiedenheit
von dem regelmäßigen Verhältniß Statt findet, welche unmög-
lich gleichgültig sein kann für die Weise des Denkens selbst,
d. h. für diese psychologische Thätigkeit; und es liegt also hier
der Psychologie einer der merkwürdigsten Gegenstände zur Be-
trachtung vor. Denn wenn sich schon das erste Denken des
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Träger des Gedankens ist; wenn dann ferner der Knabe und
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/195>, abgerufen am 27.11.2024.
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